»Für mich hat sich genau dieses Rätsel noch nicht entwirrt, aber ich weiß, dass ich für deine Interessen nicht zur Verfügung stehe…«
Mia kannte Nelli wie keinen anderen Menschen. Sie wurde immer besonders sachlich, wenn sie keinen Ausweg sah.
»Also, wenn du mich fragst…«
»Ich frage dich nicht!« Nellis Stimme lallte verdächtig, was für eine wie sie immerhin äußerst merkwürdig war. »Du hattest jede Chance, Klartext zu reden, rechtzeitig Mia.«
Klartext also.
»Wenn einer ein Referat halten soll, muss er wenigstens das Thema kennen. Nelli, wollen wir hier zwischen Tür und Angel…«
Nelli ging Mia voraus ins Zimmer, stellte wie jedes Mal, wenn sie da war, einen Flasche Rotwein, eine Flasche Mineralwasser und eine Flasche Orangensaft auf den Tisch, während Mia die Gläser aus der Vitrine nahm – ein liebgewordenes Ritual. Daran hatte sich gottlob nichts geändert.
Nelli sah, dass es Mia nicht gut ging, und sie wünschte, sie könnte die kalte Verurteilung, die sie gegen Mia hegte, einfach vergessen. Sie ahnte zwar, dass es eine solche Möglichkeit für sie gab, aber dafür brauchte es noch etwas Zeit. Sie war ein toleranter Mensch, hatte nichts gegen gleichgeschlechtliche Liebe – obwohl sie in ihren sehr jungen Jahren der Anblick von zwei knutschenden Frauen an der Endhaltestelle der Straßenbahn regelrecht angewidert hatte. Das lag vermutlich daran, dass es zwei abstoßend ungepflegte Frauen mittleren Alters waren.
In ihrem Falle aber ging es nicht um die Freiheit der Persönlichkeit, es ging um Fremdbestimmung, um das Aufzwingen einer Neigung, die nicht in ihr lag.
Dass Mia aber nach einer so brüsken Ablehnung schon wieder bei ihr aufkreuzte, musste einen tieferen Grund haben, den sie zu gerne erfahren würde, allerdings war sie im Moment viel zu schlapp dafür…
Gewöhnlich – und das hatte in den Jahren offenbar von Mia abgefärbt – gab sie, wenn sie schon einmal eine Idee hatte, keine Ruhe, bis sie hinter die Details kam.
Mia saß ihr mit unruhigen Augen aber wortlos gegenüber. Nelli schien es, als könne Mia aus jeder Sommersprosse einen Schluss ziehen, so genau, wie sie sich betrachtet fühlte. Sie war umwerfend schön, obwohl sich ihre Stirn mit einer senkrechten Furche teilte, die noch unter dem Pony zu sehen war. Sie liebte Mias Haar und wie sie es trug. An diesem Sonntag gab es einen besonders reizvollen Kontrast zum schlichten blauen Kostüm, das Mia gewöhnlich wochentags zur Arbeit trug. Am Wochenende ging sie eher leger in Pulli und Jeans, oder auch mal in Jogginghose und Turnschuhen.
Der Pony war sorgfältig kürzer geschnitten, vermutlich damit er beim Tanzen nicht störte. Der sehr gerade sitzende Körper konnte nur zu jemandem gehören, der alles daran setzte, fit zu bleiben. Auch Mias Stimme kam ihr heute um eine Nuance rauchiger vor als an allen Tagen ihres Lebens. Sie liebte diesen Ton und verglich ihn heimlich mit ihrer mädchenhaften Stimme, die ihr geradezu banal vorkam. Wie oft hatte sie geschwiegen, nur damit Mia nicht aufhörte zu reden.
Soll sie doch reden. Soll sie doch endlich bekennen, was los ist…
Als hätte ihre Freundin das lautlose Flehen gehört, wiederholte Mia, vorsichtig jedes Wort abwägend, ihre Version von der staatlichen Hilfe bei Kinderlosigkeit, die sie im Café »Milch & Zucker« nicht hatte vollenden können, weil sie von Nelli Winter ein erstes Mal in die Schranken gewiesen wurde.
Diesmal kam noch ein kleiner Schachzug dazu, der Nelli aufhören ließ, aber nicht reagieren. Der resignierte Blick von Mia war kaum wahrnehmbar, aber er war da, so gut kannte Nelli dieses Gesicht. Resigniert und zugleich gereizt - keine angenehme Kombination.
»Schon mal was von Gleichstellung gehört?«
Nelli schüttelte fast unmerklich den Kopf. Hartnäckig kann Mia sein. Würde mir nie gelingen.
»Herrje, ich sehe doch, wie du leidest. Mach es dir nicht immer so schwer. Es gibt inzwischen einen Wandel in den Köpfen, auch in den heterosexuellen. Wenn in unserem ach so demokratischen Land gleichgeschlechtliche Paare heterosexuellen öffentlich als gleichgestellt deklariert werden, ist es nur gerecht, dass die gleichgeschlechtlichen durchweg dieselben Rechte verlangen.« Mia sah Nelli erwartungsvoll an: »Was ist? Ich sehe doch, wie es in deinem Kopf rotiert. Vertraust du mir nicht…?«
Nelli bemerkte ein kleines Entsetzen in Mias Augen. Sie musste antworten, um nicht als völlig verbohrt dastehen zu müssen nach all dem Guten, das Mia in den letzten Jahren für sie getan hatte.
»Lass es mich so ausdrücken. Ich dachte, ich kenne dich zu gut, um dir nur eigene Interessen zu unterstellen. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, deinem Ansinnen etwas Uneigennütziges abzugewinnen. Leider gelingt mir das diesmal nicht…Versetz dich mal in meine Lage. Ich verliere gerade meine beste Freundin, so oder so. Anderenfalls: wie stünde ich selbst vor aller Welt, so als Lesbe. Alle würden glauben, Ben sei unschuldig gewesen und alles habe an mir gelegen.«
Mia trank auffallend langsam. Dann schüttelte sie ihren Kopf, wobei das helle Haar locker hin und her fiel, ehe sie herausbrachte, dass ihr genau dieser Gedanke auch schon gekommen war, dass ihr die Meinung anderer aber piep-egal sein würde, wenn sie einen so sehnlichen Wunsch hätte, wie sie, Nelli, ihn habe.
Für einen Moment war ihr vermutlich aufgefallen, dass ihre Meinung wie eine Bevormundung klang und sie schwieg wieder, lehnte sich zurück und nippte an ihrem Glas. Stets trank Mia Rotwein mit Orangensaft, heute rührte sie den Wein nicht an.
Als Nelli nicht protestierte, stieß sie Worte heraus, die in genau dieser Kombination von resigniert und gereizt unangenehm waren, aber die sich dennoch ganz neu anfühlten.
»Wer will uns beweisen, dass wir kein Paar sind…! Mehr Opfer kann ich für dich nicht bringen. Ich spiele die Rolle mit, bis du erreicht hast, was du willst. Die einzige Voraussetzung, die ich sehe, ist die: Du musst es wirklich wollen!«
Noch tappte Nelli im Dunkeln, worauf Mia wirklich hinaus wollte. Es dauerte logischerweise, ehe sie etwas zu begreifen begann und noch einmal, ehe sie etwas erwidern konnte.
»Und wie ich will …« Sie weinte lautlos in sich hinein. Weniger aus Freude, diese Hoffnung überhaupt noch einmal in ihr Leben lassen zu können, mehr, weil sie Mia so Unrecht getan hatte mit ihrer Lesben-Vermutung. Nein, Mia wäre nicht Mia, hätte sie für sich selbst einen so hinterlistigen Plan geschmiedet. Und überhaupt… Wo hatte sie ihre Augen und Ohren? Mia war gar kein Typ für die andere Fraktion .
Nelli beobachtete, wie Mia zwei Stunden später in Richtung Zentrum lief, beinahe schleppte sie sich vorwärts. Also waren ihre Schmerzen nicht erfunden.
Es hatte sich gut angefühlt, wieder auf gleicher Welle zu schwimmen, obwohl die Intensität, mit der Mia Problemen zuleibe rückte, in diesem Falle für Nelli einfach unheimlich war. Sie glaubte nicht recht, dass da etwas gehen könnte und sie wusste vor allem nicht, warum Mia an ihrer Mutterschaft überhaupt Interesse haben sollte. Wäre sie lesbisch, hätte es wenigstens einen Sinn gemacht – gerade für Mia. Aber als Freundschaftsdienst war es einfach zu groß.
Am Ende des Tages wusste Nelli Winter, einen Menschen zu kennen, eine Freundschaft erfahren zu haben, die sonst niemand so schnell erleben würde. Dennoch lagen noch Tage und Wochen vor ihr, in denen eine Mauer aus Unbekanntem zu durchbrechen war, wofür sie ihre Kraft noch nicht einzuschätzen wagte.
Sie hätte es wissen können. Sie kannte Mia besser als sie sich selbst kannte. Mia würde immer versuchen, den besseren Weg zu finden und die Informationen, die sie dafür benötigte, sich selbst zu besorgen.
Erst einmal kam sie mit zur Frauenärztin. Auch wenn Dr. Rowling, die Nellis familiäre Situation kannte, aus allen Wolken fiel, so gestand sie doch ein, dass der Verlust ihrer Kinder und die Abneigung gegen den Vater als Träger einer so schrecklichen Erbkrankheit eine neue Neigung in Nelli erzeugt haben konnte.
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