In ihrer Lethargie wäre ihr ein logischer Gedanke niemals von selbst gekommen. Nicht einmal, als sie nach Monaten endlich zur Ruhe gekommen war. Erst als ihre Trauer verblasst war und ihre Sommersprossen wieder im natürlichen Sommerteint verschwammen, sah sie die Dinge nüchtern: Die Wunden würden verheilen, langsam aber stetig etwas mehr. Vielleicht war es gut so. Vielleicht wäre ihr Leben mit Ben Winter für immer und ewig eine Tortur geblieben, wie zuletzt. Und Mia hatte Recht. Vermutlich hätte sie sich nie wirklich von ihm getrennt.
Die beste Idee aber hatte ihre Freundin an einem Sonntagmorgen, an dem sich Mia entschieden hatte, Nelli spontan zum Frühstück einzuladen. Warum so spontan, war ihr erst viel später klar geworden.
»Sieh doch die Sache mal realistisch. Wenn der Erbfehler nicht in dir liegt, könntest du wieder Mutter werden, und sei es durch eine Samenspende…«
Nelli antwortete nicht, biss in ihr Honigbrötchen und lauschte dem Ticken der alten Wanduhr. Es lag ein Gefühl von tiefem Frieden in Mias Küche, den sie mit keinem Wort zerstören wollte. Mia wusste zu gut, dass Nelli nie wieder heiraten wollte, aber die letzte Überlegung stand bisher niemals zur Debatte. Dabei war es die beste, die es für Nelli und ihre Erwartung ans Leben geben konnte, würde sie nicht so viel Geld verschlingen, das Nelli im Moment nicht aufbringen konnte. Außerdem brauchte Nelli Winter in der Tat erst Gewissheit über sich selbst.
Wochen später hatte sie die vage Erklärung eines Arztes: Der Gendefekt sei rezessiv über den Vater auf das Kind übertragen worden. Auch sagte er, dass ein Mädchen den Mangel mit seinen zwei X-Chromosomen wahrscheinlich ausgeglichen hätte. Jungen mit nur einem X-Chromosom gelinge das nicht oder seltener.
So einfach, wie sich Mia die Sache vorgestellt hatte, war sie dann doch nicht. Die Aussichten für eine alleinstehende Frau standen denkbar schlecht.
Nelli hatte durch Mias Idee gerade wieder neuen Mut geschöpft, doch noch Mutter werden zu können, aber nicht einmal eine Adoption war für eine ledige Frau möglich.
Sie hatte den Gedanken an das, was kurze Zeit für möglich erschien, wieder weggeschoben. Es war müßig, länger an einer Utopie festzuhalten. Außer Frust konnte das nicht bringen.
Nach einer langen, schlaflosen Nacht war Nelli Winter zu der Überlegung gelangt, dass sie Mia zu Unrecht verdächtigt hat. Der Anruf ihrer Freundin am frühen Morgen versprach, dass sie etwas aufgestöbert hatte, was sie ihr in der Mittagspause unbedingt zeigen müsse.
Eigentlich wollte sie nichts dergleichen mehr zulassen. Ihr junges Leben der letzten Jahre war von Abhängigkeit überzogen. Kein Wunder, dass sie ständig das Gefühl hatte, mit allem gescheitert zu sein. Nur langsam wuchs die Gewissheit: Wenn wirklich jemand gescheitert war, dann waren es die Menschen, die für sie bestimmt hatten, was zu tun war. In erster Linie Ben. Sollte es nun Mia werden?
Sie hatte gehofft, Ben würde sie immer beschützen und er würde das Leben mit ihr meistern, nicht gegen sie. Als sie endlich Klarheit mit sich selbst hatte, kam wieder Mia ins Spiel. Hätte sie selbst entscheiden können, wäre sie einfach nur gegangen, ohne Scheidung und das ganze peinliche Prozedere. Dass Mias Mama Inga Andersson es gut für sie ausgehen ließ, konnte sie nicht voraussehen. Im Nachhinein begriff sie schließlich, dass diese konsequente Trennung nur allzu berechtigt war. Jetzt, wo sie wusste, dass Ben mit dieser anderen Frau noch weniger klarkam, das hieß, diese Frau mit ihm, konnte sie sich gar nicht darüber freuen. Aber sie erkannt für sich: Sie war endlich frei genug, sich einzugestehen, dass er kein Mann fürs Leben war, vielleicht nie sein würde. Er war ein verwöhntes Muttersöhnchen, das womöglich neunundzwanzig Jahre lang im Hotel Mama inzwischen sogar seinen Erzeugern zu viel wurde, weshalb sie ihn mit ihrer »Flucht« zur Selbstständigkeit zwangen.
Das Café »Milch & Zucker« war Nelli nicht allzu vertraut. Hierhin aber hatte sie Mia bestellt, weil sie die folgenden Abende mit ihrem Ensemble unterwegs sein würde, wie sie sagte. Ihr unbändiger Hang zu tanzen hatte sie zu einer kleinen Gruppe junger Frauen gebracht, die sehr moderne Tänze einstudierten. Ihre Auftritts-Hochzeit war alljährlich um den Karneval herum. Einmal hatte Mia Nelli regelrecht zu einer Probe mitgeschleift. Seitdem findet sie Mia noch attraktiver und sich selbst noch unscheinbarer. Aber auch all die langbeinigen Mädchen und deren Beweglichkeit flößten Nelli Respekt ein.
Sie trafen sich schon vor der Tür. Mia völlig außer Atem, Nellis Verstand arbeitete im Leerlauf. Dennoch bemerkte sie, wie sie zu frösteln begann.
Bisher hatte es für sie nie einen Grund gegeben, in dieses Café zu gehen, das allzu nah an Bens Zuhause lag, was auch eine unglückliche Zeit lang ihr Zuhause war. Später hatte sie die Gegend bewusst gemieden. Und jetzt musste sie ausgerechnet mit Mia hier sein und sich die nächste unvergoren Idee anhören?
Nelli versuchte in Mias Augen zu lesen, um gewappnet zu sein. Sie konnte nicht direkt ausmachen, was in ihrer Freundin vorging, aber ihr Blick sah zweifellos sehr mild, sehr mitfühlend aus.
Nachdem sich die Kellnerin wieder entfernt hatte, legte Mia – für Nellis Geschmack allzu vorsichtig – einen Zeitungsartikel zwischen beide Gedecke. Der Wirkung ihrer leisen Worte konnte sich Nelli nicht erwehren.
»Schwangerschaft durch Samenspende geht auch bei unverheirateten Partnern, also auch bei gleichgeschlechtlichen.«
Hinter Mias Worten witterte Nelli ein Lauern, ein starkes Interesse auf ihre Reaktion. Sie hatte gemeint, von einer zur anderen Sekunde keine Luft zu bekommen. Das also soll Mias Plan sein: Von hinten durch die Brust? Vielleicht war Mias Ansinnen schlimmer, als alles, was sie bisher durchmachen musste. Hatte Mia an all den Männern kein Interesse, weil sie auf Frauen stand? War sie – Nelli – für Mia begehrenswert? Aber warum? Selbst als Lesbe würde Mia eine andere Frau als sie bekommen können. Zudem war ihr der Gedanke schlicht absurd. Mia als beste Freundin war der Glücksumstand ihres Lebens. Mia als gleichgeschlechtliche Partnerin war für Nellis Verständnis einfach absurd. Und genau das sagte sie Mia auf den Kopf zu. Endlich hatte sie den Mut für klare Worte.
Einen Moment lang konnte sie Mias Gesichtszüge sehen. Ihre Augen wurden größer, ihre Mundwinkel zuckten. Nervös? Oder aggressiv? Enttäuscht!
Jetzt könnte es zum ersten Mal während den vielen Jahren ihrer Freundschaft unangenehm werden, wenn nicht sogar zum gänzlichen Bruch kommen.
»Oooch Nelli!«, bringt der rosige Mund heraus.
Mias Enttäuschung zu sehen, bereitete Nelli beinahe körperliche Schmerzen, dennoch stand ihr Entschluss fest: Nie wieder tun, was gegen die eigenen Interessen verstößt, nur weil es andere wollen. Diese Konsequenz hat mehr als zehn Jahre zu lange auf sich warten lassen.
»Was denkst du denn von mir. Hier, lies endlich und dann sage mir, ob du für eine kleine Mogelei zu feige bist, oder ob du mal etwas riskieren willst für deinen Traum.«
Unter dem Bild glücklicher Eltern mit einem Baby stand die fette Überschrift: Landeszuschuss für Wunschbaby.
Mit klopfendem Herzen überflog Nelli den halbseitigen Artikel. Etwas länger verweilten ihre Augen bei jenen Zeilen:
Wir wissen, dass zu einem nicht unerheblichen Prozentsatz auch unverheiratete Paare von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen sind – sagt die Sozialministerin. Wir wollen unverheiratete Paare in Zukunft genauso unterstützen wie verheiratete.
Das Kinderwunsch-Förderprogramm galt bisher nur für Verheiratete. Seit Juli können nun auch unverheiratete Paare eine Finanzspritze für die infrage kommenden Methoden bekommen, vorausgesetzt die Bedingungen stimmen…
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