»Vorausgesetzt die Bedingungen stimmen? Sie stimmen nicht, Mia…« Nellis Stimme überschlug sich, was für diesen kleinen Raum an Peinlichkeit nicht zu übertreffen war.
»Ach komm, Nelli. Andere Menschen würden für einen so sehnlichen Wunsch ihre Großmutter morden…«
»Andere Menschen vielleicht…«
Erstaunt konnte sie sehen, wie die Enttäuschung in Mias Gesicht einer tiefen Verletzung wich. Sofern sie sich nicht irrte, vermochte Mia Andersson gerade nicht damit umzugehen, abgelehnt zu werden.
Nelli sprang auf und verließ das Café ohne einen Blick zurück. Voraus konnte sie freilich auch nicht blicken, zu konfus waren ihre Gedanken und zu verletzt ihre Gefühle.
Dass ihr so etwas überhaupt passieren konnte, war für Nelli Winter leider möglich. Unmöglich erschien ihr, dass es ihr ausgerechnet mit ihrer besten Freundin passierte. Wie konnte sie die ganzen Jahre an Mias Seite nicht bemerken, was mit Mia los war?
Freilich gab es da den einen oder anderen Moment, in dem sie ums Verrecken nicht verstand, warum Mia so abweisend zu ganz passablen Kerlen war, während sie selbst sich nach einem Menschen sehnte, der sie liebte.
Geradezu völlig verrückt schien ihr deshalb die Erinnerung an jenen Tag, als Mia in ihrer gemeinsamen Teenager-Zeit einmal bei ihr übernachtete. Erst hatte sie sie nach allerlei peinlichen Dingen gefragt. Ob ihre – Mias - Brüste geil wären. Ob sie – Nelli - sich ihre Muschi schon einmal ganz genau betrachtet habe und ob sie auch nicht verstand, warum ein Kerl beim Anblick von ein paar behaarten Hautfalten so in Ekstase geraten würde.
Nelli konnte nur kichern, aber dann erzählte Mia, wie Norbert Speer in sie eingedrungen war, wie seine Küsse eher beißend als zärtlich waren und dass er sie letztlich bespritzt hatte. Freilich dachte Nelli: Dieses Schwein! Sie hatte spritzen mit pinkeln assoziiert. Woher sollte sie damals schon wissen, was im männlichen Körper abgeht. Sie hatte ja ihren eigenen noch nicht einmal richtig verstanden. Dazu hatte ihr schließlich Mia verholfen.
Eines wurde ihr jetzt auf ihrem stolpernden Weg zurück zu ihrer Arbeit klar: Zu dieser Zeit und lange Zeit danach konnte Mia Andersson noch nicht mit falscher Neigung behaften gewesen sein. Ganz im Gegenteil. Was hat sie dazu gebracht? Vermutlich das gemeinsame Erforschen von Nelli Pohls Körper?
Zum Arbeiten kam Nelli Winter nur mit großer Anstrengung und Konzentration. Nebenbei aktivierte sie all ihre innere Kraft für den Selbsterhaltungstrieb, der sie in Zukunft besser gegen die Grausamkeiten des Lebens bewahren sollte. Wirklich erdrückend war, dass sich immer mehr Menschen aus ihrem Leben verabschiedeten. Erst ihr geliebter Vater. Dann ihre Kinder und ihr einst geliebter Mann. Jetzt auch noch Mia.
Eine halbe Woche lang hatte Mia Andersson ein schlechtes Gewissen. Auf irgendeine Weise verstand sie sich jetzt als Opfer, als fleischliches Opfer, dessen geistiges Opfer für die beste Freundin einen Sinn machte, der sich brutal in Luft aufgelöst hatte.
Das Training an jenem Abend war zu anstrengend, als dass sie noch die Kraft hatte aufbringen können, länger über Nellis Sturheit nachzudenken. Den bohrenden Schmerz hinter ihrer Stirn musste sie ignorieren. Sie war eine pflichtbewusste Person, hatte zu funktionieren, auch weil sie bei der Generalprobe für ihre Auftritte mit dem neuen Programm nicht fehlen durfte – erst recht nicht wollte.
Sie nahm sich ernsthaft vor, gleich nach der Probe zu Nelli zu gehen. Sie hatten so etwas wie eine Absprache. Damit keiner von beiden vor verschlossener Tür stand, hatte jede den Wohnungstür-Schlüssel der anderen. Ins Haus zu kommen, musste jeder allein überlassen bleiben. Fatal, seit einer der letzten Proben-Abende vermisste sie ihr Schlüsselbund. Zum Glück besaß sie ein zweites Bund, aber das lag in der Wohnung, und der Schlüsseldienst war kostspielig genug.
Schon zum dritten Mal rief sie bei Nelli an. Sie wusste, dass sie sehen musste, wer anrief, aber sie ignorierte es offenbar.
Am Sonntag – es war schon über die Mittagszeit hinaus – als sie sich nach zwei Aspirin endlich in der Lage fühlte, das Haus zu verlassen, steuerte sie zielsicher dem Wohnblock entgegen, in dem Nelli seit ihrer Scheidung wohnte. Zum Glück hatten die größeren Gebäude der Stadt einen Pförtner, der, wie sie von Nelli weiß, nicht als Pförtner angesehen werden möchte, sondern als Sicherheitsdienst. Zum ersten Mal verstand Mia, warum das so war. Der Mann im dunkelblauen Blouson mit einem Schriftzug auf dem Rücken ließ sie nicht ins Haus. Wenn der Mieter sich auf das Klingeln nicht melde, sei er nicht zu Hause. Wenn sie etwas abzugeben habe, könne sie es bei ihm hinterlassen.
Zum Glück hatte der Block noch einen zweiten Zugang auf der anderen Seite, die zum Zentrum hin zeigte. Der war zwar, wie sie vermutete, ohne Videoüberwachung. Hinein kam sie ohne Schlüssel deswegen noch lange nicht. Aber sie hatte Geduld, wenn auch nicht unendlich viel.
Mit einem kleinen Pulk – dem Knoblauchdunst nach zu urteilen kamen die Leute vermutlich vom Familientreffen beim gemeinsamen Mittagstisch – huschte sie mit ihnen durch die Tür und mischte sich vorsichtshalber dicht unter die Wartenden vor den Aufzügen.
Im Haus war es zu dieser Zeit sehr ruhig. Der lange Flur im siebten Stock war verwaist, hinter den gleichförmigen Türen hörte man keinen Laut. Am Ende des Flures das winzige Klingelschild: Nelli Winter.
Mia schluckte. Am liebsten würde sie auf dem Hacken kehrt machen, noch ehe sie ihren Finger auf den Schalter legte. Zu gerne hätte sie sich die ganzen Querelen erspart, aber Nelli war schon immer ein wichtiger Mensch in ihrem Leben gewesen. Sie haben sich immer gut ergänzt und waren stets ehrlich zueinander. Wo fand man das heute noch? Außerdem hatte sie seit Jahren ein schlechtes Gewissen, an Nellis Unglück durch Ben mitverantwortlich zu sein…
Vielleicht war es besser, nie mehr an diesem Problem zu rütteln, aber ihr Gefühl sagte, es war längst zu spät. Der Stein rollte bereits und es lag nicht in ihrer Macht, ihn aufzuhalten.
Nach dem ersten Läuten rührte sich nichts. Das hatte nichts zu bedeuten. Nelli konnte an der Tonfolge genau ausmachen, welche der Klingeln bedient wurde. Weil es die obere an der Wohnungstür war, würde sie nicht zum ersten Mal zögern. Oder sie schlief ein wenig, was für ein Wochenende total in Ordnung war.
Nelli wusste nicht, ob sie sich überhaupt erheben sollte. Zum Glück brauchte sie eines nicht zu befürchten. Mia würde es nicht sein können. Die hätte es garantiert zuerst mit ihrem Schlüssel probiert, wenn auch nach Nellis heimlicher Vorsorge in Zukunft vergebens. Aber von einem kratzenden Schlüssel im Schloss war nichts zu hören gewesen.
Auf dem kurzen Weg durch den Flur hatte Nelli das Gefühl, ihre Beine knickten ein, was nur an den Beruhigungspillen liegen konnte, die sie seit Tagen wieder nahm. Mit einer Hand ordnete sie ihr Haar, mit der anderen öffnet sie die Tür…
Mia! Das Wort kam nicht über ihre Lippen, aber vermutlich war sie kalkweiß im Gesicht. Eine Idee, wie sie ihr grenzenloses Entsetzen verbergen sollte, kam auch nicht. Nelli spürte, wie ihr übel wurde. Ihre Haut überzog sich mit einem dünnen Schweißfilm…
Jetzt hat Mia Andersson Blut geleckt und nichts wird sie davon abhalten, meine Not für ihre Zwecke auszunutzen. Schuftiger geht es nicht.
»Hättest du mir nicht von Anfang an sagen können, wie es um dich steht!« Klügere Worte fielen ihr auf die Schnelle nicht ein…
Das war keine Frage, das war bitterster Vorwurf. Endlich bekam Mia eine Vorstellung davon, warum Nelli regelrecht getürmt war.
»Wonach sieht es denn aus?« Mia lächelte trotz heftiger Schmerzen, die nicht nachlassen wollten. Für den katastrophalen Verdacht konnte sie Nelli nicht verantwortlich machen. Sie hätte wahrlich eindeutiger sein müssen. Wenn ein Mensch Missverständnisse sät, darf er nicht erwarten, dass sie keine Früchte tragen.
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