Und sie erzählte gedankenverloren: „Aber irgendwann und irgendwie haben wir uns doch verstanden. Robert sprach fast nie über seine Arbeit, sodass wir beide uns trotzdem bald gut ergänzten. Nachdem ich ungewollt schwanger wurde, war es für uns eine Selbstverständlichkeit, zu heiraten und vor der Stadt ein Haus zu kaufen.“
Beide tranken noch eine Tasse Kaffee und Birgit war froh, dass Margot weitererzählte, dass es sie aber gestört hätte, als Robert nach Julias Geburt von ihren verstärkten Hüften immer von ihrem „Hüftgold“ gesprochen habe.
„Erzähl noch einmal die Geschichte mit dem Gutenachtlied“, bat jetzt Birgit und Margot sagte, dass die Geschichte einen so langen Bart hätte, dass dieser schon bis zum Boden reiche.
Nach mehrfachem Drängen erzählte sie: „Nach Julias Geburt konnte ich alsbald wieder im Orchester spielen und die Kollegen besuchten mich abends zu Hause. Erst später habe ich erfahren, dass sie uns insbesondere deshalb besuchten, um zu hören, wie Robert seiner Tochter das Gutenachtlied sang. Dieser Gesang war das Topthema im Orchester. Keiner glaubte, dass ein Mensch so falsch und jeden Abend anders falsch singen konnte.“
Birgit freute sich, dass Margot so viel sprach und damit abgelenkt war.
Trotzdem bekam sie feuchte Augen und sagte: „Weißt du, dass ich dich oft beneidet habe?“
„Aber warum das?“
„Liebe Freundin, mein Mann kam spät nach Hause, war relativ geschafft und ein richtiges Familienleben fand nicht statt.“
Margot schaute Birgit etwas erstaunt an.
„Siehst du, dein Robert war immer zu Hause, wenn du zur Konzertprobe musstest oder etwas anderes vorhattest. Mein Bernd hatte nie für mich, geschweige denn für seinen Sohn, Zeit.“
„Aber dafür arbeitete Robert viel am Abend und in der Nacht.“
„Klar, aber er war zu Hause und immer für seine Tochter und für dich da.“
„Na, so war es auch wieder nicht. Seine Firma forderte ihn ganz schön und er musste oft zu Kunden fahren und blieb über Nacht weg.“
„Und hat er euch abends angerufen?“
„Ja, oft dauerten die Gespräche die halbe Nacht und er musste doch Julia am Telefon das Gutenachtlied singen.“
„Mein Gott, was warst du eine glückliche Ehefrau. Wenn Bernd auf Dienstreise war, hörte ich die ganze Zeit kaum etwas von ihm. Angeblich führte er auch noch abends an der Bar Kundengespräche. Wie diese Kundinnen aussahen, konnte ich mir gut vorstellen.“
„Warst du denn nicht eifersüchtig?“, fragte sie und Birgit antwortete, dass sie sich daran alsbald gewöhnt hätte.
„Aber ihr macht doch immer recht lange gemeinsame Urlaube“, stellte Margot fragend fest.
„Ja, ja, jeden Sommer vier Wochen Empuriabrava in unserem Appartement. Vier Wochen, lange schlafen, viel essen und trinken.“
„Du hast mir erzählt, dass ihr im Urlaub viel unternehmen würdet.“
„Früher, als wir noch kinderlos waren, haben wir tatsächlich viel unternommen. Unser erster Spanienurlaub führte uns nach Barcelona . Eine wunderbare Stadt mit viel Kultur und auch Bademöglichkeiten. Danach kamen wir nicht mehr so weit nach Süden und entdeckten die Costa Brava . Was waren wir von der Wildheit und der Geschichte dieses katalonischen Teils Spaniens begeistert. Jedes Jahr haben wir eine andere Gegend entdeckt und die steilen Klippen und einsamen Badestrände geliebt. Tagelang waren wir in den Serras oder den Pyrenäenausläufern unterwegs und haben die spanische - beziehungsweise katalanische - Küche genossen. Wenn wir im Frühjahr dort waren, konnte man die Mandelblüten genießen und riechen; selbst das Meer roch anders als heute in Empuriabrava . Das alles war wunderschön. Als der Sohnemann geboren war, mussten wir unsere Urlaubsgewohnheiten ändern. Doch der Costa Brava sind wir trotzdem treu geblieben.“
„Wann habt ihr denn euer Appartement gekauft?“
„Als unser Sohn drei Jahre alt war, bekam Bernd das Ferienappartement in Empuriabrava angeboten und war nicht abzuhalten, es zu kaufen. Im nächsten Jahr kaufte er auch noch ein Boot.“
„Ich stelle mir das schön vor; eine Wohnung und ein Boot, was will man mehr?“
„Klar, fast jeden Tag mit dem Boot aufs Meer, aber immer in Sichtweite der Küste. Alles ist eng und stressig. Und dann legen wir in einer der Buchten an, in die angeblich nie Urlauber kommen. Nur komisch, dass wir alle Leute dort kennen und ich noch nie einen Spanier in einer solchen Bucht gesehen habe.“
„Aber ihr habt sicherlich viel Zeit, um abends die spanische Kultur zu erleben, oder?“
„Von spanischer Kultur habe ich seit dem Appartementkauf nichts mehr mitbekommen; es sei denn, wir fahren nach Girona oder Figueres . Aber für den Sohnemann wird es oft zu langweilig und es geht alsbald zurück.“
Nach diesem Urlaubsbericht war es an Margot, ihre Freundin zu trösten.
Birgit bemerkte es und versuchte sie erneut von deren Problemen abzulenken.
„Meine beste Freundin, du glaubst gar nicht, wie oft ich dich beneidet habe. Ich war einmal bei euch und habe gesehen, wie Robert Julia ins Bett gebracht hat.“
„Meinst du das allabendliche Ritual mit Tanz und Gesang?“
„Genau, du hattest deine Tochter fertiggemacht und er tanzte mit ihr zu einem alten Schlager, offenbar aus seiner Jugendzeit. Sie blickte verklärt und der Speichel lief ihr aus dem Mund in Roberts Hals. Danach bekamst du von Julia ein Küsschen und er brachte das Kind zu Bett.“
„Und dann kam bestimmt der entsetzliche Gesang, vor dem man weglaufen konnte.“
„Genau so war es. Was habe ich dich um dieses Ritual beneidet.“
„Beneidet? Ich war eifersüchtig, weil Julia so ein Papakind war. Meine Mutter, der ich davon erzählte, hat mich ausgelacht und geschimpft, dass ich eifersüchtig sei. Danach habe ich alles mit anderen Augen gesehen und war tatsächlich glücklich“, erzählte sie und Birgit sagte: „Siehst du, ich war eifersüchtig, nicht du.“
Jetzt hatte Birgit bemerkt, dass sie das falsche Thema angeschnitten hatte. Margot weinte hemmungslos und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück.
Zum Glück hatte sie die Tür nicht verschlossen und Birgit konnte so auf ihre Freundin aufpassen, dass sie sich nichts antat. Irgendwann schliefen beide ein.
Nach diesem Samstag und der Nacht zum Sonntag versuchte Birgit, ständig für die Freundin erreichbar zu sein. Doch Margot zog sich immer mehr zurück.
2. Kapitel
Nach zwei weiteren Wochen brach Margot den Kontakt zu ihrer Freundin fast völlig ab.
Sie zog sich in eine Art Schneckenhaus zurück und vernachlässigte nicht nur die Freundin, sondern auch sich selbst.
Ihre Gedanken kreisten immer nur um ihren Schwur am Grabe der Tochter und des Ehemannes. Sie hatte versprochen, beide zu rächen; und jetzt war Hans Köhler verschwunden und für sie nicht erreichbar.
Wie und wo sollte sie ihn jetzt finden, fragte sie sich ständig und fing an, sich alle Einzelheiten nach dem 4.Mai 2009 noch einmal in Erinnerung zu holen.
Julia war am 4.Mai 2009 missbraucht worden.
Das Urteil wurde schon am Freitag, den 3.Juli gefällt.
Rechtsanwalt Rötel, der die Familie als Nebenkläger vertrat, hatte ihr damals gesagt, dass es ein Glück wäre, dass die Strafkammer Bengler zuständig sei, weil der Vorsitzende in einem Vorgespräch gesagt habe, dass die Belastung des Kindes schnell aufhören müsse.
Weil alle Verfahrensbeteiligten auf Rechtsmittel verzichtet hatten, wurde das Urteil „vier Jahren Haft unter Anrechnung der Untersuchungshaft“ rechtskräftig und der Verurteilte in Strafhaft überführt.
Margot hatte während der gesamten Haftzeit genau gerechnet, wann Hans Köhler entlassen werden würde; und jetzt das große Missgeschick, dass man nicht beachtet hatte, dass die Entlassung bereits einen Tag früher erfolgt war.
Читать дальше