Der Tango ist eine besondere Art von Musik. Für Europäer ist er meist nicht mehr als ein kunstvoller, ein bisschen erotischer und ein bisschen lasziver Gesellschaftstanz, mit dem man Eindruck schinden kann. Und sie kennen ihn fast nur als Musik ohne Worte. Für uns ist er weit mehr. Er hat etwas mit Poesie zu tun. Und sehr viel mit der Seele des Volkes. Er ist eine Kommunikationsform über die Widrigkeiten des Daseins, über unsere Sorgen und Nöte, über die individuelle Erkenntnis dessen, was Leben heißt. Mit einem Tango singen wir von den elementaren Dingen des Lebens, von Liebe, Enttäuschung und Verrat, von dem Arrangement mit unseren Niederlagen, von der Sehnsucht und unseren unerfüllten Träumen, vom unentrinnbaren Tod und den ganzen großen und kleinen Theaterspielen, die ihm vorangehen. Der Tango kreist um die Dinge, die wirklich wichtig sind und die jeder von uns kennt, egal, woher er kommt und in welchen Sphären er sich sonst bewegt. Seine Sprache ist einfach und klar und orientiert sich am Umgangston auf der Straße; er spricht unser aller Sprache. Manchmal ist sie schräg, manchmal so gewöhnlich wie der Alltag um uns herum. Da er die Wahrheiten des Lebens in einer ungeschminkten Sprache auf den Punkt bringt, ist sein Ton weltweise und somit melancholisch, was alerte Europäer sofort mit Depression verwechseln. Aber der Tango ist nicht traurig. Er sieht das Leben nur so, wie es eben ist.
Eines Tages war meine Mutter zu Besuch bei uns und ich erinnerte mich daran, dass meine Kindheit von Musik durchzogen war. Mein Vater brachte mir das Spiel auf dem Akkordeon bei. Meine Mutter sang im Haus, wann immer ihr danach war. Also holte ich meine Gitarre heraus und bat sie, etwas für uns zu singen. Sie wählte einen Tango. Und dann noch einen. Und noch einen. Am Anfang begleitete ich sie nur mit der Gitarre. Aber bald sangen wir im Duett. Sie sang meisterhaft. Wie ein Schwan. Ihre Stimme war voll und leidenschaftlich und lebenserfahren zugleich. Sie wählte Lieder aus, die uns beiden etwas sagten. Es war so gut, dass ich sie schon nach wenigen Tagen ins Studio schleppte, um eine Platte aufzunehmen. Wir hatten wieder eine gemeinsame Sprache gefunden.
Das heißt noch nicht, dass wir uns von da an in allen Dingen des Lebens einig gewesen wären. Sie spricht noch immer ihre eigene Sprache und ich die meine. Aber wir haben einen guten Dolmetscher, den man auch tanzen kann.
Sechs: Denken-Dorf
Wenn Europäer über Flüchtlinge reden, klingt das manchmal, als ob irgendwelche gelangweilten Abenteurer aus Weitfortistan es sich in den Kopf gesetzt hätten, sich hier zu bereichern, die Ureinwohner beiseite zu boxen, ihnen ihre Mercedesse und Porsches wegzunehmen und unverdientermaßen das Leben von Parasiten zu führen.
Bei mir war das anders. Ich habe mir Europa gar nicht ausgesucht, geschweige denn Deutschland. Ich saß auf unbestimmte Zeit in diversen Gefängnissen und Konzentrationslagern einer altertümlichen Militärdiktatur, weil ich es für normal hielt, Freiheit und soziale Gerechtigkeit zu verteidigen und für kriminell, Bücher und Lieder zu verbieten. Die Generäle sahen das genau umgekehrt. Sie konnten mich aber nicht umbringen und irgendwo verscharren, weil meine Verhaftung bekannt geworden war und große Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International meinen Fall registriert hatten. Doch man wollte mich trotzdem loswerden und beschloss, mich zur Verbannung zu verurteilen. Ein Militärgericht fasste den Beschluss und schickte mich ins Ausland.
Ich landete in Deutschland. Aber das war nur ein Zufall und, ehrlich gesagt, nicht mein Wunsch. Es hätte auch Australien, Kanada oder Rumänien sein können. Oder der andere Teil Deutschlands, den man damals noch DDR nannte. Gekommen bin ich nicht freiwillig, aber ich bin freiwillig geblieben. Nicht, um jemandem einen Mercedes wegzunehmen oder gar einen Arbeitsplatz. Sondern weil das Land schön ist und die Leute liebenswert, auch wenn man sie nicht sofort versteht und ihre Kultur viele Geheimnisse birgt, die zu erforschen sich lohnt.
Darauf kommt es an. Unterschiedliche Kulturen und Lebensweisen sind kein Grund, sich ängstlich in eine Ecke zu kauern oder die Verteidigungsinstrumente der Barbaren herauszuholen, um alles Fremde zu verdrängen. Man muss nicht alles gut und richtig finden, was die anderen tun. Aber man sollte ihre Gründe kennen. Also neugierig darauf sein, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und warum die anderen sich so anders verhalten.
Mit der Sprache fängt alles an. — Diesen Satz schreibe ich nicht nur deshalb auf Papier, weil mir damit die Herzen der Deutsch-, der Fremdsprachen- und Sozialkundelehrer zufliegen werden, sondern weil er wahr ist. Jedenfalls im Prinzip, denn ich gebe zu, dass mit der Sprache auch alles aufhören kann. Zum Beispiel das Verständnis. Manchmal fängt die Ratlosigkeit ja erst richtig an, wenn man den Reden der Leute folgen kann; oder wenn man nach dem tieferen Sinn eines Wortes zu suchen beginnt und dabei entdeckt, dass es besser sein kann, ihn nicht zu finden.
Ich lebe jetzt schon lange in Deutschland. So lange, dass ich sogar gelegentlich in der deutschen Sprache schreibe und singe. Aber ich habe noch nicht alle Geheimnisse ergründet. Weder die der Sprache, noch die des Landes, der Leute oder gar der Kultur. Immer wieder werde ich schmerzhaft an meine Unwissenheit erinnert, vor allem wenn ich auf Tournee bin und versuche zu begreifen, wo ich mich befinde und was dieser Ort mir sagen will. Ich gebe die Frage weiter. Urteilen Sie selbst:
Meine Reiseroute führte mich von Linsengericht nach Freigericht und weiter nach Oberkotzau. An Darmstadt, Flögeln, Fickmühle und Kakentorf vorbei bis Dortmund, Weil der Stadt, Einöde, Poing und Aha. Ich überflog Mannheim und übernachtete in Weibersbronn. Voller Gelüste durchwanderte ich Freudenstadt, Baden-Baden und Singen. In Deppendorf hatte ich fast einen Unfall. Ich lernte Erlangen kennen, Siegen, Braunschweig und Malente, besichtigte das Sauerland, Salzgitter und die Zugspitze. Ich kam hungrig nach Essen, nach Kuchen und nach Süßen und suchte in Gießen, Regen und Eisleben nach einem Regenschirmständer. In Holzmaden war es mir etwas unheimlich. In Hörvelsingen suchte ich vergeblich nach Hörveln. In Senden hielt ich mich länger auf bevor ich dann über Waldshut, Rosenheim, Offenburg, Gaildorf und von dort mit einem Abstecher über Geilenkirchen, Heilbronn, Vierzehnheiligen und Riegel in Denkendorf landete, wo ich heute wohne und darüber nachdenke, ob ich eines Tages nicht ein Buch oder ein sehr langes Lied schreiben sollte, das nur aus Ortsnamen besteht. Das wäre dann womöglich eine sehr poetische und dazu charmante Umschreibung dessen, was Deutschland ist.
Aber bestimmt auch eine sehr verwirrende.
Urs M. Fiechtner
Wir übersetzen
fremde Zungen
Der von Ferne kommende Dichter spricht:
Quisiera navegar / sonando bocinas
Aha: Der von Ferne kommende Dichter
will hupend / das Meer befahren
Nacht um Nacht quälen wir uns
Fragen an Enzyklopädien stellend,
Zungen wendend und drehend,
um Verzweiflungen hüpfend:
Befährt der von Ferne kommende Dichter
wahrhaftig hupend das Meer?
Oder befährt er es nebelhornend,
oder gar trötend, tutend —
Befährt er es blökend ? Reckt er sich
quäkend auf einem Schiffsbug empor?
Enzyklopädien wälzend,
um Verzweiflungen hüpfend,
befragen wir exokulturelle Götter
über das Hupen, stehend
auf einem Schiffsbug,
über das Tröten, Meere befahrend,
über das Quäken
des von Ferne kommenden Dichters.
Die Enzyklopädien antworten nicht.
Die Koryphäen ergreifen die Flucht.
Die Deutschlehrerinnen rüsten zur Seeschlacht.
Die Götter verhüllen das Haupt.
In unserer Not besinnen wir uns
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