Für uns aber war es eine schreckliche Vorstellung. Wir waren die Flüchtlinge der schlimmsten Diktatur, die unser Land jemals erlebt hatte, aber noch nie hatten wir eine solche Gemeinheit erduldet: wir sollen wirklich dem Staat preisgeben, wo wir wohnen? Wo wir essen und schlafen, wo wir uns lieben und mit unseren Kindern streiten, wo wir unsere Krankheiten ausheilen und uns mit Freunden treffen? Unmöglich. Die Polizei wollte wissen, wo wir zu finden waren. Das konnten wir nicht zulassen. Wir misstrauten der Polizei zutiefst. Nicht der deutschen, sondern der Polizei an sich. Sie hatte uns verfolgt, verhaftet, gefoltert, inhaftiert und schließlich deportiert. Wie konnte man so etwas von uns verlangen?
Aber in Deutschland muss sich jeder anmelden. Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt, sagten die alten Römer, und die Deutschen praktizierten es. Wir philosophierten darüber, ob eine Frau hierzulande sofort zum Einwohnermeldeamt rennen muss, wenn sie erfährt, dass sie schwanger ist. Und was das Wort „melden“ da zu suchen hat, das wir nur vom Militär kannten. Wie meldet man der Welt einen neuen Bewohner? Muss man sich aufbauen wie auf dem Kasernenhof und die Hacken zusammenschlagen und so etwas brüllen wie: „Melde gehorsamst, neuer Erdenbürger eingetroffen!?“
Jedenfalls sind in Deutschland alle Menschen Anmeldeados. Es ist strikte Bedingung für alle Einheimischen und eine unausweichliche Amtshandlung für alle Anwärter auf den Status eines Flüchtlings: man existiert nicht nur einfach so unordentlich vor sich hin, sondern man existiert amtlich. Damit die Sache ihre Ordnung hat.
Wir hatten keine Wahl. Uns blieb nichts anderes übrig, als uns dem Schicksal zu beugen. Wir wurden stinknormale Anmeldeados. Also war die Frage „se anmeldearon?“ an die neuen Ankömmlinge der chilenischen Exilfamile berechtigt. Man wollte die Leute auf das Neue vorbereiten und wissen, wie sie mit dem Problem fertig wurden. Man tauschte Erfahrungen aus. Man erzählte sich die neuesten Episoden aus der Serie der Albträume. Es baute sich so etwas wie ein Psychosyndrom der Angemeldeten unter uns auf. In Stuttgart hatten wir sogar eine interne Zeitung mit dem Namen El Anmeldeado. Die Idee war schön und hatte Witz. Der Name war in doppeldeutiger Form richtig. Diese Zeitung war die Trägerin von Meldungen aus der Welt der Angemeldeten.
Wir redeten und redeten über anmeldearse und die Anmeldeados. Es war fast unser einziges Thema. Die Anwendung des Wortes wurde immer feiner, immer vielfältiger. Wir konnten das Verb bald in allen Formen verwenden, als wäre es unser Wort oder als wären wir es gewesen, die die Manie in die Welt gesetzt hätten, sich überall anmelden zu müssen:
Indikativ
Yo me anmeldeo
tú te anmeldeas
él/ella se anmeldea
nosotros nos anmeldeamos
vosotros os anmeldeáis
ellos/ellas se anmeldean
Imperfekt
Yo me anmeldié
tú te anmeldeaste
él/ella se anmeldió
nosotros nos anmeldeamos
vosotros os anmeldiasteis
ellos/ellas se anmeldearon
Konjunktiv
yo me anmeldearía
tú te anmeldearías
él/ella se anmeldearía
nosotros nos anmeldeariamos
vosotros os anmeldearíais
ellos/ellas se anmeldiarían
Zukunft
yo me anmeldearé
tú te anmeldearás
él/ella se anmeldeará
nosotros nos anmeldearemos
vosotros os anmeldiaréis
ellos/ellas se anmeldiarán
Partizip
anmeldeado
Gerundium
anmeldeando
Imperativ
anmeldéate
anmeldéese
anmeldeaos
anmeldéense
Negation
NO ANMELDEARSE!
Drei: Tripolis
Als ich noch nicht einmal wusste, wo Libyen auf der Weltkarte lag, las ich in einem Prospekt den Namen einer unbekannten Stadt. Tripolis.
Tripolis, wiederholte ich laut, um den Klang besser zu verstehen. Was konnte das sein? Ich wusste es nicht und es war keiner da, der mir eine Antwort hätte geben, kein Buch in meinem Regal, wo ich hätte nachschlagen können.
Normalerweise, wenn die Neugier mich durstig macht, warte ich, bis ich sie stillen kann. Aber mit Tripolis war das anders. Ich konnte es nicht lassen, immer wieder über die Bedeutung nachzusinnen und legte mir zu meiner Beruhigung eine These zurecht, die mir ganz schlüssig vorkam: der Name Tripolis musste verwandt sein mit dem Wort tripas, was in meiner Sprache Gedärme bedeutet.
Ich frage mich noch heute, wie ich auf diesen Gedanken kam. Nun, der Zufall wollte es, dass ich damals ganz in der Nähe der Fiambreria Alemana wohnte. Und da flogen meine Gedanken hin.
Die Deutsche Metzgerei war eine Attraktion in Santiago de Chile. Dort hingen dutzende von tripas an den Fleischerhaken. In verschiedenen Größen und Formen und Färbungen lockten sie die Passanten an die Schaufenster — es war das Haus der Tripas. Die Kunden bildeten regelrechte Schlangen, um da reinzugehen und original deutsche Würste zu ergattern. Wir alle waren schon drinnen gewesen. Und jeder von uns hatte sich schon mal gefragt, woher diese tripas kamen, wo sie hergestellt wurden. In Chile hatten wir damals solche Fabriken noch nicht.
Urplötzlich hatte ich eine Vermutung — konnte es sein, dass Tripolis etwas damit zu tun hatte? War Tripolis eine deutsche Stadt, eine, die darauf spezialisiert war, tripas herzustellen? Die Stadt, aus der die Köstlichkeiten der Fiambreria Alemana stammten? Über den Ozean geschickt, in unglaublich schweren Kisten, die eigentlich Kühlschränke waren? Ich konnte es mir bildlich vorstellen. Die Deutschen waren zu allem fähig — auch Berge zu versetzen. Berge von Würsten.
Sie waren Emigranten in Santiago, aber lebten mit einem Fuß noch immer in der alten Heimat. Sie ließen sich die Mercedesse aus Untertürkheim und Sindelfingen schicken, die Aufzüge aus dem Ruhrgebiet, das Bier aus München und die Gedärme — die Gedärme aus Tripolis. Das schien mir logisch zu sein und bei dieser Erklärung blieb ich. Jedenfalls vorläufig.
Viele Jahre später kam ich als aufgeklärter junger Mann nach Deutschland. Damit will ich sagen: als einer, der zwar über eine gewisse Allgemeinbildung verfügte, viele Bücher gelesen und manch eines davon auch verstanden hatte, der aber trotzdem in der Lage war, an einem unbekannten Bahnhof panikartig aus dem Zug nach Frankfurt zu springen, weil die vielen kleinen Schilder in seinem Waggon ihm sagten, dass er in dem ganz falschen Zug nach „Raucher“ saß — aber auf der anderen Seite eben als einer, der einen so undeutsch klingenden Namen wie Tripolis selbstverständlich niemals auf deutschem Boden suchen würde. Nun, es ist nicht ganz leicht, zu erklären, was in dem Kopf eines ausländischen jungen Mannes geschieht, wenn er auf einem unbekannten Bahnhof nach Orientierung sucht, irgendwo auf der Strecke nach Raucher, und dann erfährt, wo er gelandet war: in Darmstadt.
Ich war geschockt. Regungslos stand ich auf dem Bahnsteig und wusste nicht, was ich denken sollte. Ich hatte das scheußliche Gefühl, das Opfer eines gezielten Ablenkungsmanövers zu sein. Konnte es sein, dass Tripolis doch in Deutschland lag?
Es war zu viel für mich. Ich setzte mich hin, schloss die Augen und versuchte mich zu sammeln, bevor ich daran dachte, meinen Weg nach Frankfurt fort zu setzen.
Vier: Deutschstunde
„Wie heißt der Viejo Pascuero auf Deutsch?“ — wollte mein Bruder wissen. „Weihnachtsmann“ — antwortete ich. „Was?“ — fragte er überrascht. „Weih-Nachts-Mann“ — buchstabierte ich langsam.
Er grübelte eine Weile und fing dann an zu lachen. So eine Übersetzung für den Viejo Pascuero hätte er sich nicht mal im Traum ausgedacht. Eigentlich, meinte er, beleidigten die Deutschen den guten alten Mann damit.
Mein Bruder, das muss man dazu sagen, glaubt Deutsch zu verstehen, obwohl er es nicht spricht. Manchmal gelingt es ihm, das eine oder andere richtig zu übersetzen, meist über den Umweg der englischen Sprache, die er einigermaßen gut beherrscht. Deshalb glaubt er, dass das immer funktioniert. Aber da liegt er falsch.
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