Das Dach der Anlage war flach, wie es bei den Drakentempeln üblich war, nur in der Mitte erhob sich ein eckiger Turm, der an die hundert Klafter hoch war und in dem sich die Glocken des Tempels befanden, die jeden Mittag und jeden Abend zum Gebet riefen. Die Spitze des Turmes war mit einer Kuppel aus schimmerndem Kupfer versehen, die jeder, der sich der Stadt näherte, schon von weitem sehen konnte, zumindest bei klarem Sonnenschein. Denn dann glitzerte sie wie ein Edelstein weit über alle Lande.
An den Seitenwänden war der Tempel mit großen Fenstern aus buntem Glas versehen, durch die man zwar nicht erkennen konnte, wer oder was sich darin befand, wo jedoch immer der Schein von Kerzenlicht leuchtete, das tags und nachts von den Priestern am Leben gehalten wurde.
Alvarn kam ihm mit seiner Gruppe entgegen, auch ohne Erfolg. „Warten wir?“, fragte der Ritter. Dirion hielt einen kurzen Moment inne, sah wie das Feuer sich weiter ausbreitete und dachte angestrengt nach, welcher Schritt als nächster sinnvoll war. „Ihr werdet mit Euren Männern zur Kaserne reiten und in Erfahrung bringen, warum die Stadtwachen nicht hier sind! Ich bleibe hier, für den Fall, dass sie kommen!“ „Die Reiterei?“, fragte Alvarn, „oder die Triganer?“ Dirion zuckte mit den Achseln und schmunzelte grimmig: „Kommt drauf an, irgendwer wird unsere Gesellschaft schon aufsuchen.“
Alvarn nickte, zog sein Pferd herum und gab den Befehl, zur Kaserne aufzubrechen. Da er immer noch keinen Überblick über das Geschehen gewonnen hatte, entschied Dirion sich dazu, von Vyliss abzusteigen und zu Fuß in Richtung des Brunnens zu gelangen.
Ihm strömten hunderte aufgebrachte Menschen entgegen, keiner hatte Augen für ihn, aber er sah niemanden, der verwundet war oder eine Waffe trug, also schienen sich die Triganer tatsächlich nicht in unmittelbarer Nähe zu befinden.
Dirion erkannte einen der Freiwilligen von der städtischen Miliz an seinem grünen Leinenhemd und der Lederkappe, der an ihm vorbeieilte. Er fasste ihn am Arm und hielt ihn fest: „Kannst du mir sagen, wohin die Triganer geflohen sind?“ Der junge Mann hatte im ersten Moment den Impuls, sich loszureißen. Doch dann erkannte er, wen er vor sich hatte. „Mein Prinz!“ „Wo sind die Triganer?“, widerholte Dirion seine Frage eindringlich, um die Förmlichkeiten zu übergehen, zu denen der Milizsoldat anhob. „In Richtung der Westmauer! Braucht Ihr Verstärkung?“
Dirion hielt die Unterstützung durch einen Laien, der kaum ein Schwert führen konnte, zwar für beinahe überflüssig. Allerdings war es sicherlich sinnvoll, jemanden an seiner Seite zu haben, der sich in der Unterstadt besser auskannte, sollte es zu einer Verfolgung kommen. Also nickte er nur kurz: „Komm mit!“
Sie drängten sich zurück in die Richtung, aus welcher der Prinz gekommen war. Jetzt war Dirion froh, dass er keine Rüstung trug, die ihn daran hinderte, sich durch Engstellen, zwischen menschlichen Gliedern, trampelnden Füßen und aufgebrachten Ziegen, Schweinen und Pferden hindurchzuschlängeln. Der Mann von der Miliz hatte alle Mühe, mit Dirion Schritt zu halten und der Prinz musste einen Moment auf ihn warten, als er bereits bei seinem Pferd angelangt war.
Er war vermutlich Schmied, vielleicht aber auch irgendein anderer Handwerker, der viel Körperkraft in Ausübung seiner Tätigkeit brauchte, Dirion hatte seine muskulösen Unterarme aus dem Hemd ragen gesehen. Doch alle Muskelkraft nützte ihm nichts, wenn es darum ging, sich schnell durch eine Menschenmasse zu bewegen.
„Noch immer nichts?“, fragte Dirion einen der Ritter, die vor dem Tempel auf ihn gewartet hatten. „Nein, mein Prinz!“ „Die Triganer sind in Richtung der Westmauer unterwegs!“ „Dann müssen sie die kleineren Gassen genommen haben“, entgegnete der Ritter, „auf dem Markt begrenzt der Tempel die Weststadt.“
Mit einem Mal fiel es Dirion wie Schuppen von den Augen. „Der Tempel!“, rief er seinen Rittern zu. Nun war auch der Milizmann zu ihnen gestoßen und die sechs Bewaffneten pirschten sich an das Portal heran. Dirion sah sich in der Runde um, sich versichernd, dass alle für einen etwaigen Kampf bereit waren. Jeder von ihnen hatte seine ganze Aufmerksamkeit auf das Tor vor ihnen gerichtet, die Hand auf den Knauf des Schwertes gelegt.
So näherten sie sich dem Tempeleingang, bis Dirion als Erster direkt davor stand, die schwere Klinke heruntergedrückte und dann ruckartig die Tür aufstieß. Als sei es eine eingeübte Bewegungsabfolge, zog er sein Schwert aus der Scheide, noch bevor er ganz begriff, was ihn so in Aufruhr versetzte. Sein Herz klopfte, die Muskeln in seinem Schwertarm waren allesamt angespannt und die Finger krallten sich um den Griff. Er ließ seinen Blick kurz in alle Richtungen wandern, um eine Übersicht zu bekommen.
An die dreißig triganischen Krieger duellierten sich mit etwa ebenso vielen Soldaten von der Stadtwache. Bänke, Kerzenständer und etliche Reliquien lagen teilweise zerstört auf dem Boden des Tempels herum, einige der Kämpfenden auf beiden Seiten waren bereits verletzt zu Boden gegangen, andere schleppten sich mit blutenden Wunden aus dem Kampfgeschehen. Es schien sich eine Front im Mittelgang gebildet zu haben, wobei die Königstreuen aus Dirions Perspektive auf der linken und die Triganer auf der rechten Seite kämpften. Am nächsten stand ihm einer der Triganer, der im raschen Rhythmus Pfeile mit einem Bambusbogen auf die Stadtwachen verschoss.
Diese Eindrücke genügten ihm.
Dirion spurtete auf den Bogenschützen zu, sprang aus der Laufbewegung heraus auf eine der Gebetsbänke und nahm diese als Rampe, um in einem einzigen großen Satz vor dem Triganer zu landen, welcher - noch ehe er es sich versah - von der Klinge des Prinzen getroffen wurde. Die Triganer trugen kaum Rüstungen, sondern bloß Waffenröcke aus Leinen und Leder. Also riss das Eisen die Haut über der Brust auf wie Papier. Das Letzte, was der Krieger wahrnahm, war das Blut, das als roter Sturzbach über seinen Körper rann. Dann sackte er auf die Knie und ging tot zu Boden.
Dirion hatte indes schon zum nächsten Hieb ausgeholt und ließ die Klinge auf einen Angreifer niedersausen, der offenbar zu den Anführern der Gruppe gehörte. Er trug einen Lendenschurz, der mit Lederstreifen zum Schutz, aber auch mit allerhand Pailletten und Edelsteinen besetzt war, die im flackernden Kerzenlicht des Tempels wild funkelten. Sein muskulöser Oberkörper war entblößt und auf beiden Armen hatte der Mann Tätowierungen, die seine Stammeszugehörigkeit auf Triga erkennbar machten. Schnell genug gelang es ihm, das Schwert des Prinzen mit seinem eigenen zu parieren und so dem tödlichen Schlag zu entgehen. Die Eisen schepperten aufeinander und Dirion konnte das Vibrieren seiner Klinge durch den ganzen Arm spüren.
Mit Kraft war dem Triganer nicht zu kommen, stellte er fest, während dieser zum Gegenangriff ausholte und seine Waffe durch die Luft wirbeln ließ. Über ihren Köpfen kreuzten Dirion und sein Gegenüber die Klingen, mehrmals hieben sie aufeinander ein, doch jedes Mal wurde Dirion ein Stück weiter zurückgedrängt. Schließlich gelang es ihm, einen besonders heftigen Schlag auf seiner Klinge abgleiten zu lassen, sodass die geballte Wucht des Angriffs ins Leere ging.
Der Triganer taumelte einen Schritt nach vorne, vom Gewicht seines Schwertes mitgerissen. Nur einen Wimpernschlag lang hatte der Krieger sich eine Blöße gegeben, doch das war genug Zeit für Dirion, um den Knauf seines Schwertes herumzuschwingen und sie seinem Gegner in den Nacken zu schlagen, während der Prinz selbst einen Satz nach vorne machte und sich Platz verschaffte.
Der Triganer stöhnte auf und taumelte noch einige Schritte nach vorn, sodass er erst unmittelbar vor der Bank zum Stehen kam, die Dirion eben noch hinter sich gehabt hatte. Dieser umklammerte sein Schwert jetzt mit beiden Händen und ließ es nach vorn schnellen, während er einen langen Ausfallschritt machte, sodass das Eisen die Brust des Triganers traf. Der Mann war sofort tot und mit aller Kraft zog Dirion seine Waffe wieder aus dem leblosen Körper.
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