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Er konnte noch nicht lange geschlafen haben, als das scharfe Läuten der Alarmglocken ihn aus den Träumen riss. Auf einen Schlag war Dirion hellwach, sein Herz pochte wild, die Augen weit aufgerissen. Um im Dämmerlicht etwas zu erkennen, bahnte er sich einen Weg zu einem Kerzenständer in der Ecke des Raumes und entzündete das Licht an der Feuerstelle. Jetzt war auch Kyjera erwacht. Sie warf die Decke beiseite, hüllte sich in ihr Gewand und eilte zur Tür. Dirion zog sich Hose und Stiefel an und schloss dann zu ihr auf.
Sie eilten durch die Gänge in Richtung der Waffenkammer, denn hier hatte man sich beim Ertönen der Glocke unverzüglich zu versammeln. Da die Waffenkammer der Ritter in einem Keller des Schlosses lag, der weit hinter den dicksten Mauern errichtet worden war, hielt die Palastwache diese Gewölbe für den sichersten Ort.
Dirion trat als Erster ein, in der Halle waren bereits einige Ritter und auch zwei der Edelleute, deren Gemächer näher am Keller lagen. Doch keiner von ihnen wusste Genaueres, sicher war nur, dass allergrößte Gefahr herrschte. Wenn die Glocken gingen, wurde das Schloss bedroht.
Das Murmeln einer aufgebrachten Menschenmenge näherte sich dem Keller und kurz darauf strömte ein Pulk von Hofleuten in die Gewölbe, unter ihnen alles, was Rang und Namen hatte. Dirion sah sich um, aber auf den ersten Blick konnte er in der Traube von Leuten weder seinen Vater noch seinen Bruder entdecken.
Marschall Eristrian löste sich aus der Menge und ging auf Dirion und Kyjera zu. „Milady“, er nickte ihr zu. Kyjera erwiderte seinen Gruß nur wortlos, denn er wandte sich an Dirion: „Das kommt überraschend!“
Dirion sah den Marschall selten so besorgt. „Wir wissen bisher nur von einer Handvoll, die es über die Stadtmauer geschafft hat. Aber wenn es ein paar von ihnen möglich war, dann scheinen sie irgendwo ein Schlupfloch gefunden zu haben.“
In diesem Augenblick eilten zwei Palastwachen in den Raum und nahmen Haltung an. Die Piken fest in der Hand und die Blicke geradeaus, geboten sie den Umstehenden genug Ehrfurcht, um einen mehrere Schritt großen Platz in der Mitte der Halle zu schaffen. Der König betrat die Gewölbe, seine Miene ernst, aber ohne jede Regung von Furcht, gekleidet in ein einfaches, doch edles Gewandt aus blauem Samt.
Er ließ den Blick kurz in die Runde schweifen und räusperte sich, während hinter ihm Prinz Aldrĭn die Waffenkammer betrat. Die Menschen im Raum, inzwischen an die sechzig Frauen und Männer verschiedener Funktionen, aber alle mindestens dem Ritterstand angehörig, wurden mit einem Mal still.
Prinz Aldrĭn drängte sich unterdessen zu seinem älteren Bruder Dirion durch. Sie tauschten kurz sorgenvolle Blicke, dann wandten sie sich dem König zu und erwarteten seine Erklärung.
König Arkil der Dritte erhob seine Stimme: „Ohne Euch in falscher Sicherheit wiegen zu wollen, kann ich sagen, Ihr befindet Euch zu diesem Zeitpunkt außer Gefahr! Diese Mauern stehen fest, solange ich stehe.“
Sein Vater beherrschte es, mit seinen Worten die Ängste der Menschen zu bändigen, dachte Dirion bei sich, während er in die Runde blickte und bemerkte, wie die größte Anspannung in den Gesichtern ein Stück weit abzuklingen schien. Zumindest die Grafen und Herzöge, die nur das Leben in ihren Herrenhäusern kannten, schienen im Angesicht wahrer Bedrohung jedes Mal dem Herztod nahe zu sein.
„Und seid gewiss, dass wir die Bedrohung für unsere Stadt abgewendet haben, noch ehe die Sonne sich über den Horizont erhebt!“
„Wie kann er sich so sicher sein?“, flüsterte Dirion dem Feldmarschall zu. „Gar nicht, er setzt auf sein Glück“, antwortete dieser.
„Jeder mutige Ritter greife zu seinen Waffen und begebe sich zur Zugbrücke! Seid Ihr gerüstet, Marschall Eristrian?“
Eristrian trat entschlossen vor und antwortete mit lauter Stimme, sodass es der ganze Raum hören konnte: „Wir werden diese Ratten zurück ins Meer jagen! Reitet Ihr hinter mir, Männer?“ Ein Grölen von der versammelten Ritterschaft kam dem Marschall als Antwort entgegen und er nickte zufrieden dem König zu: „Zu Euren Diensten, mein Herr!“
Alle, die sich nicht am Kampf beteiligten, verließen nun die Waffenkammer und die Knappen spurteten zu ihren Herren, um ihnen in die Rüstung zu helfen. Der König war in der Tür stehen geblieben, wo ihm Gorakon Esefo entgegengetreten war, der Primus der Palastwache. Dirion konnte sehen, wie sein Vater in Gedanken versunken nickte, während er sich über den grauen Bart strich. Esefo unterrichtete ihn über die Vorgänge in der Stadt, welche Arkil mit der üblichen stoischen Gelassenheit aufnahm, gleichwohl es in seinem Kopf unermüdlich arbeitete.
Kyjera wandte sich Dirion zu, der scheinbar unentschlossen das Treiben besah. „Gehen wir zu den anderen in den Thronsaal?“ Dirion sah ihr kurz in die Augen und bemerkte, dass sich auf ihrem Gesicht große Sorge abgezeichnet hatte. Dann nickte er: „Du wirst gehen.“
Kyjera griff nach seiner Hand und ihre Stimme klang beinahe flehend: „Du musst nicht reiten! Es ist nicht deine Aufgabe als Prinz, mit den Rittern zu reiten!“ Dirion versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch innerlich war er hin und her gerissen. Was brachte es ihm, dass er sich gestern erst mit dieser Frau verlobt hatte, wenn er heute Nacht das Leben verlieren sollte?
Mit einem Blick zu seinem Vater hinüber wurde ihm jedoch klar, dass er keine Wahl hatte, wenn er sich vor dem König beweisen wollte. Er wandte sich wieder Kyjera zu, zog sie an seine Brust und küsste sie innig. Ein kurzer Abschied schmerzt weniger .
Er drehte sich zu seinem Bruder: „Kriegen wir noch die erste Gruppe?“ Aldrĭn nickte und holte tief Luft, als würde er sie vor Anspannung in den nächsten Stunden anhalten müssen. Dann machten sie sich auf zu ihren Rüstkammern. Kyjera sah Dirion mit steinerner Miene hinterher, wie er mit seinem Bruder am König vorbeischritt und den Keller verließ.
Als die beiden jungen Männer gegangen waren, verfinsterte sich ihr Antlitz jedoch und sie kämpfte mit ihrem Zorn. Mit geballten Fäusten und strammen Schrittes verließ sie ebenfalls die Waffenkammer und ging durch den Bogengang in Richtung Thronsaal, wo sich diejenigen versammeln würden, die nicht ins Feld zogen.
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Dirion wies seine Diener an, ihm als einzigen Panzer den Brustharnisch anzulegen, seine anderen Gliedmaßen würde er mit den schwarzen Lederschienen schützen. Auch den Helm wies er zurück, als man ihm die goldene, mit Federn verzierte Haube darreichte. Er mochte die schweren Panzerplatten der Ritter nicht, denn sie schränkten ihn in seiner Beweglichkeit ein. Der Helm nahm ihm die Sicht und die ganze Rüstung war um einiges schwerer als er selbst. Dirion setzte auf seine Geschwindigkeit und sein Geschick, Muskelkraft hingegen hatte ihn noch nie beeindruckt.
Aldrĭn trug das komplette königliche Rüstzeug, als er auf seinem schwarzen Hengst auf Dirion zutrabte. „Bleib in meiner Nähe!“, wies Dirion seinen jüngeren Bruder an. Aldrĭn nickte schweigend, dann schwang Dirion sich auf den Sattel seines Pferdes. Es war ein brauner Halmgarther und Dirion hatte ihn Vyliss getauft, was in der Sprache der Alten Völker etwa „aufziehender Sturm“ bedeutete. Dirion schloss sich einigen Rittern auf ihren Pferden an, die durch das südliche Tor über die breite Zugbrücke zum vereinbarten Treffpunkt ritten.
Aldrĭn folgte ihm und musterte seinen Bruder von hinten, während dieser aus einer Satteltasche Lederhandschuhe nahm und sie sich überzog. Er war von Dirion beeindruckt, weil dieser auf ihn immer einen derart standhaften Eindruck machte, dass er sich fragte, ob er überhaupt durch irgendetwas zu erschüttern war. Im Gegensatz zu ihm musste Aldrĭn sich alle Mühe geben, sich zusammenzureißen und nicht einfach davonzulaufen, wenn er wie jetzt dazu gezwungen war, sich in Lebensgefahr zu begeben.
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