Egrodt sah Dirion mit einem besorgten Blick an, welcher ihm auszuweichen versuchte, denn der Graf sprach auf einen Schlag alles aus, was er versucht hatte, zu verdrängen.
„Wie Ihr seht, ist unser Vorhaben dringlicher denn je“, gab Egrodt zu verstehen. Auf einmal verstand Dirion, dass es womöglich der Graf war, welcher die Lösung all seiner Sorgen in der Hand hielt. „Glaubt Ihr, dass Ihr die Alten Könige so schnell aufsuchen könntet, dass ihre Armeen uns an der Warge zu Hilfe eilen?“, fragte Dirion. „Es wäre möglich“, begann Egrodt grübelnd zu erklären, „jedoch nur, wenn Ihr mir noch einmal zur Seite steht.“
Dirion zögerte mit seiner Antwort, weil er kaum eine Möglichkeit sah, seinen Vater oder auch nur eine Handvoll der Ratsherren in dieser Sache umstimmen zu können. Doch Egrodt wollte auf etwas anderes hinaus: „Ihr müsstet mir zwölf Vollmachten erteilen, um mit den Elbenkönigen zu verhandeln. Zwölf Mal werdet Ihr im Namen des Königshauses und mit dem Reichssiegel bestätigen, dass die Alten Reiche unsere Hand zur Freundschaft entgegengestreckt bekommen.“
Das war nun wirklich Verrat! Denn die Vollmachten würden logischerweise ohne Mitwissen des Königs ausgestellt werden. Dirion sträubte sich innerlich dagegen, doch war ihm bewusst, dass es die einzige aussichtsreiche Möglichkeit war, seinen Feldzug rasch zu bewältigen. Und unter Umständen der einzige Weg, lebend zurückzukehren. Denn der Graf hatte Recht, das wurde Dirion mit jedem Moment deutlicher: die Warge am Nordufer zu besetzen, war nichts weiter als der Versuch, die Triganer für ein paar Wochen aufzuhalten, bevor sie Albenbrück erreichten.
„Ich werde dafür sorgen, dass Ihr die Urkunden bekommt“, beschloss der Prinz endlich. Egrodt nickte bedeutungsvoll, dann sah er Dirion wertschätzend in die Augen: „Ihr wäret ein weiser König.“ Mit diesen Worten, welche Dirion noch lange im Gedächtnis blieben, wandte sich der Graf ab, um wieder zurück durch das Osttor zu verschwinden.
Eben kam Eristrian zurück aus der Speisekammer, eine Flasche Wein in der einen Hand, in der anderen eine große Keule Fleisch und unter dem Arm einen Laib Brot geklemmt. „Wir werden die nächsten Stunden nicht hungern müssen“, verkündete er mit zufriedener Miene schon von der Treppe aus.
Doch Dirion verspürte mit einem Mal keinen Hunger mehr. „Entschuldigt mich!“, sprach er und ging in Richtung des Thronsaals davon, ohne weiter Notiz von Eristrian zu nehmen. Sein Weg führte ihn zum König.
***
„Ich verstehe, dass du Befürchtungen hast, zu verzagen. Aber das Wichtigste wird sein, dass du Vertrauen hast“, wies Arkil seinen Sohn an.
Aldrĭn ging im Thronsaal nervös auf und ab, während sein Vater, wieder in seiner einfachen Gewandung, auf dem Thron saß und seinen unsteten Weg beobachtete. Morgen in der Frühe sollte das Schiff in See stechen, welches Aldrĭn, Juliana, Ekiredis und sonst nur eine kleine Gruppe von erfahrenen Seeleuten hinüber nach Triga brachte.
Aldrĭn blieb einen Moment lang stehen, um Arkil zu antworten: „Was mich wirklich beschäftigt, ist die Frage, warum ich es sein soll. Es gab doch zur Genüge Könige vor mir, die den Apukunen hätten schlagen können. Er ist ja nicht erst seit gestern eine Bedrohung für uns.“
„Und es haben Könige versucht“, entgegnete Arkil, „erinnerst du dich nicht an die Geschichte, welche du in der Höhle gesehen hast? Ich selbst habe es getan, vor nunmehr dreißig Jahren. Aber…“, sein Blick wirkte auf einmal abwesend, als würde er in die Ferne schweifen, „ich habe auf ganzer Linie versagt.“
„Ihr seid ein großer Krieger gewesen und seid es noch!“, beteuerte Aldrĭn.
„Aber nicht derjenige, welcher die Gunst der Götter auf seiner Seite hatte, Aldrĭn“, erklärte der König, „du hingegen hast das Schwert aus dem Berg befreit, an den es drei Jahrzehnte gebannt war.“ Aldrĭn setzte sich schließlich auf die Stufen vor dem Thron und stütze seinen Kopf mit dem Arm auf seinem Knie ab. „Und dafür, dass es die ganze Zeit dort unten gelegen hat“, fügte Arkil schnippisch hinzu, „hat es sich ziemlich gut gehalten, findest du nicht? Eine verlässlichere Waffe wirst du im ganzen Reich nicht finden.“
Plötzlich wurden die Türflügel aufgeschlagen und Dirion betrat den Saal. Aldrĭn kannte den Gesichtsausdruck seines Bruders nur zu gut, mit dem er ihn und Arkil schon von weitem ansah. Dirion schien äußerst wichtige Neuigkeiten erfahren zu haben.
Der Prinz blieb vor den Stufen stehen und verbeugte sich kurz, wie es das Protokoll vorsah. Dann begann er zu sprechen, jedoch in einem ruhigeren Ton, als seine stürmische Ankunft es hatte erwarten lassen: „Vater, ich möchte mit Euch über das Anliegen des Grafen von Asyc sprechen!“ „Du hast es befürwortet“, bemerkte Arkil, allerdings ohne Wertung in seiner Stimme. „Das finde ich gut, denn sonst sind es viel zu oft die beiden Fronten. Die Krone gegen die Ratsmitglieder.“
„Ich habe es nach reiflicher Überlegung unterstützt“, erläuterte Dirion, „doch erfolglos. Haltet Ihr es für so unmöglich, was der Graf vorgeschlagen hat?“ Arkil ließ seine Hand durch den grauen Kinnbart fahren, dann antwortete er: „In meinem Herzen nicht, aber unter diesen Umständen schon.“
„Weswegen? Es ist eben eine völlig neue Perspektive auf unsere Möglichkeiten.“
„Das stimmt. Aber ich habe die Alten Reiche vor Jahren nicht ausgeschlossen, weil ich ihnen gegenüber feindlich gesonnen bin, sondern aus dem Grund, dass der Rat es forderte und das noch tut.“ Dirion hatte damit gerechnet, dass sein Vater letztlich auf die Adeligen zurückkommen würde. Etwas energischer erklärte er: „Mit Verlaub, ich glaube nicht, dass ich an der Warge ein Lager errichten kann, welches stark genug ist, um die Triganer zurückzuschlagen. Wir haben nicht mehr die Mittel, um das ganze Reich zu beschützen, es sei denn, wir würden uns für die Unterstützung entscheiden, welche von Asyc uns versprach.“
„Doch würde das bedeuten, dass die Fürsten ihren Einfluss verlören. Es würde bedeuten, dass die Alten Könige in den Rat zurückkehrten, dass Ihnen die Vorzüge der anderen Adeligen zuständen, also auch die Möglichkeit, uneingeschränkt Handel mit den Südlanden zu führen. Und schließlich würde es bedeuten, dass wir ihnen ihr Land zurückgeben müssten. Und nun nenne mir einen Fürsten, der sein Land mit einem Alten König teilt!“
Arkils Worte schienen wie in Stein gemeißelt und Dirion wusste nicht, was er noch entgegen sollte, obwohl es in ihm unaufhörlich arbeitete. „Deine Sorge verstehe ich, Dirion. Doch habe ich auch deinem Bruder soeben eine Lektion im Vertrauen erteilt. Vertraue auch du, denn es werden bald Dinge geschehen, welche das Blatt wenden. Nur müssen wir noch ein wenig Geduld haben.“
Er stieß beim König auf taube Ohren, schoss es Dirion durch den Kopf. Sein Vater hatte Recht, es würden Dinge geschehen, welche das Blatt wendeten, doch entsprachen sie sicher nicht Arkils Vorhaben. Aber er riss sich zusammen, verbeugte sich noch einmal und verabschiedete sich knapp: „Ich werde mich darum bemühen.“
Dann drehte er sich um und verließ den Thronsaal. Aldrĭn sah seinem Bruder besorgt hinterher. Selten hatte er ihn so in Bedrängnis gesehen. Aus ihm sprach die wachsende Furcht um sein Schicksal, dachte Aldrĭn.
Sollte er ihm offenbaren, was ihr Vater mit den Dingen meinte, die da kommen würden? Dass der Apukune, zumindest wenn alles so aufging wie erhofft, binnen zwei Wochen vernichtet wäre und Dirion dann endlich für lange Zeit heimkehren durfte?
Er sah zu seinem Vater hinauf, der Dirion mit ebenso besorgter Miene hinterher blickte. Der König war erfahren im Umgang mit Menschen, die von Leid geplagt waren, davon war Aldrĭn überzeugt. Wahrscheinlich war es besser so, dass Dirion nichts davon wusste, in welche Gefahr sich Aldrĭn begab und dass ihre vielleicht letzte Hoffnung in den Händen seines jüngeren Bruders lag. Sonst würde er sich auch darüber noch den Kopf zermartern, während er eine Armee zu befehligen hatte.
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