Dirion sah zu seinem Vater hinauf, doch dieser verzog selbst in dieser ungewöhnlichen Angelegenheit kaum seine Miene, sondern wartete weiter bedächtig ab, bis der Sekretarius den nächsten Punkt der Ordnung verlas. Die Entscheidung des Königs wurde üblicherweise erst am Abend, manchmal auch erst am Tag nach der Ratsversammlung verkündet.
„Es spricht nun“, deklarierte der Schreiber, „der oberste Befehlshaber des Reiterheeres, Marschall Eristrian zu Beothin.“
Es war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen man Eristrians vollen Namen zu hören bekam. Der Marschall gab nicht viel auf seinen Titel, zumal er zwar aus einer Adelsfamilie stammte, dem Rat jedoch nur wegen seines militärischen Ranges beiwohnte, genau wie der erste General der Fußsoldaten und der oberste Flottenadmiral. Um sich gebührend abzuheben von den Waffenknechten , wie sie von den Aristokraten abschätzig genannt wurden, war es im Adel überdies zur Gewohnheit geworden, Marschall Eristrian, General Kastyrbal und Admiral Iovin bloß bei ihren Vornamen zu nennen.
„Ich danke Euch“, begann Eristrian. Er nahm den Schieber, welcher auf dem Tisch lag, und begann, einige Figuren auf der Karte zu verschieben. „Wie Ihr seht, laufen alle Stellungen der Triganer in den letzten Monaten auf einen Punkt zu. Deswegen bin ich mir sicher…“, er schob einen ganzen Haufen roter Figuren zusammen, „dass sie sich hier an der Warge wieder zusammentun werden, um den Fluss zu überqueren und Windugises von Süden her zu überrennen.“
Was der Marschall ausführte, sah zuerst nach willkürlicher Spekulation aus, doch dann erkannte Dirion, dass er Recht hatte.
Die Triganer waren seit Jahresbeginn zunehmend in den südlichen Landen gesichtet worden und hatten die Höfe und Dörfer in Sydgondia und Redencia scheinbar planlos überfallen, geplündert und verwüstet zurückgelassen. Doch statt weiter nach Westen vorzudringen oder eine der größeren Burgen anzugreifen, verteilten sie sich über das gesamte südliche Reich, blieben dabei aber immer möglichst im Verborgenen und versteckten sich in den Wäldern. Glaubte man Eristrians Ausführungen, so war dies alles jedoch nur ein Bündeln ihrer Kräfte gewesen, um nun die Warge gen Norden zu überqueren. Den Fluss, welcher die südliche Grenze der Grafschaft Windugises markierte und häufig als natürliche Grenze zwischen Norden und Süden des Königreiches bezeichnet wurde.
„Wir haben große Bollwerke im Westen errichtet, weil wir erwartet hatten, dass die Triganer um die Warge herumziehen und über Goldbergen angreifen würden, doch nun ergibt sich eine völlig andere Situation. Ihre Truppenbewegung deutet daraufhin, dass sie in wenigen Tagen über Windugises herfallen, dann Ostersundt und Montimaxia überrennen und schließlich vor den Toren von Albenbrück stehen. Und das nicht mal mehr in einem Monat, wenn wir ihnen nicht eine schlagkräftige Armee entgegenwerfen!“
Die Worte des Marschalls hatten ihre Wirkung voll entfaltet und besonders die Edelleute des Nordens, welche sich und ihre Länder bis eben noch in Sicherheit gewägt hatten, starrten wie gelähmt auf den Haufen roter Figuren, der sich am südlichen Flussufer aufgetürmt hatte und vor dem nunmehr jene Grafschaften lagen, die nur zur Meeresküste hin ausreichend vor Angriffen geschützt waren.
„Ich schlage deswegen vor“, fuhr Eristrian fort, „dass wir alle verfügbaren Männer aus den nördlichen Landen zusammenziehen und die Triganer noch am Ufer der Warge zurückschlagen, denn eine günstigere Position zur Verteidigung werden wir weiter nördlich nicht finden.“
Einige Ratsmitglieder nickten zustimmend und Eristrain wartete eine Reaktion des Königs ab, welcher in militärischen Fragen wie dieser des Öfteren auch sofort seine Meinung kundtat. Tatsächlich machte Arkil einen nachdenklichen Eindruck und fragte den Marschall schließlich: „Und wer könnte Eurer Meinung nach die Führung dieser Unternehmung tragen?“
Es war ein obligatorisches und ungeschriebenes Gesetz, dass immer auch ein Mitglied des Rates oder der königlichen Familie selbst an Feldzügen teilnahm, da die militärischen Anführer keine Weisungsbefugnis hatten, sobald sich die Lage entgegen der königlichen Schlachtpläne änderte. Und bei den meisten großen Schlachten der letzten Jahre war es Dirion gewesen, welcher die Männer zusammen mit Eristrian in den Kampf führte.
Als Eristrian noch einmal prüfend in die Runde sah, um zu verkünden, wen er für den Feldzug empfehlen würde, wusste Dirion jedoch, dass es diesmal Aldrĭn sein würde, der die Soldaten anführte. Schließlich hatte er sich bei dem Überfall auf die Stadt als fähiger Kommandant bewiesen und jeder im Saal wusste zudem, dass Dirion in den nächsten Wochen keinen Fuß in ein Feldlager setzen würde, sondern sich fernab vom Krieg vermählte.
„Verehrter Rat, mein König, ich empfehle mit bestem Gewissen, dass Prinz Dirion unsere Truppen führen soll!“ „Und so sei es“, segnete der König den Vorschlag ab, als sei ihr Dialog eingeübt.
Dirion fiel aus allen Wolken. „Das kann doch nicht Euer beider Ernst sein!“, entrüstete Dirion sich und hatte in diesem Moment das Gefühl, ein anderer spräche durch seinen Mund, denn normalerweise hätte er sich solch einen respektlosen Ausfall gegenüber dem Marschall und seinem Vater nie erlaubt.
„Ja“, fiel da auch Egrodt von Asyc ein, welcher offenbar seinen Verbündeten zu verlieren fürchtete, „warum wählt Ihr nicht einen der anderen Fürsten aus, um Euch zu begleiten? Der Prinz heiratet, das wird er wohl kaum im Feld tun wollen!“
Eristrian ballte die Fäuste: „Wollt Ihr an seiner statt das Kommando übernehmen, Graf?“ Das ließ Egrodt verstummen. Noch vernichtender für seine Pläne wäre es schließlich, wenn er für Monate an das Schlachtfeld gebunden wäre. „Wenn ich einmal ganz offen sprechen darf“, begann Eristrian angespannt, während er den übrigen Adeligen vernichtende Blicke zuwarf, „dann muss es der Prinz sein, weil ich hier niemanden sonst sehe, der genügend Schneid und Erfahrung für eine so bedeutende Aufgabe hätte!“
Dies war ein offener Affront gegenüber allen Aristokraten, wie ihn sich Eristrian noch nie geleistet hatte, auch wenn er bekannt dafür war, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Um die angeheizte Atmosphäre zu durchbrechen, mischte sich der König selbst wieder ein: „Es ist zwar keine Frage des Schneids, doch gebe ich dem Marschall vollkommen Recht damit, dass Dirion wohl der derzeit Erfahrenste unter uns ist, was die Führung unserer Streitmacht angeht. Und aus diesem Grund wünsche ich es genauso, wie Eristrian es empfiehlt.“
Damit war die Sache beschlossen und keiner der Ratsherren wagte mehr, zu widersprechen.
Nur Dirion bebte vor Zorn. Wie konnten der Marschall und sein Vater ihn nur derart verhöhnen und ihn vor seiner Heirat in die vielleicht größte Schlacht des Krieges entsenden? Doch er schluckte seinen Zorn herunter. Vor dem versammelten Rat hatte es keinen Zweck, zu rebellieren, denn der Entschluss des Königs war ausgesprochen und damit unantastbar.
Es folgten nun einige weitere Redner, unter anderem der Herzog von der Weiden, welcher seinen Antrag auf eine Änderung der Kornsteuern vortrug und viele andere, doch Dirion hörte ihnen nicht mehr zu, sondern starrte nur stumm auf die Karte.
Dort standen die Triganer südlich der Warge, die ihn an seiner Hochzeit hindern sollten. Selbst wenn er Kyjera noch heute heiratete, was so formlos und überstürzt ohnehin nicht seine Absicht war, dann war es doch nicht unwahrscheinlich, dass sie die Stellung nicht halten konnten und er starb, bevor er sein erstes Kind kennenlernen durfte.
Am liebsten hätte er die roten Figuren stellvertretend vom Tisch gefegt und den Krieg für beendet erklärt. Wie würde Kyjera reagieren, wenn sie von dem Ratsbeschluss erführe? Endlich schloss der König die Zusammenkunft und Dirion erwachte wie aus einem Traum, als die Aristokraten den Raum verließen. Er versuchte, ihren Blicken auszuweichen, doch vor den Türen des Thronsaales fing Eristrian ihn ab.
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