Er stellte sein Motorrad in die nun leere Garage. Sie würden das Auto noch zurückholen müssen, aber derzeit hatten sie andere Sorgen. Leise Stimmen waren aus der Küche zu hören. In erster Linie die seines Zwillings, ruhig und erklärend, aber auch die Stimme des Mädchens war zu vernehmen, zart, leise, unsicher und fragend. Er blieb im Türrahmen stehen und beobachtete die Beiden, wissend, dass sie ihn beide bemerkt haben mussten, sie ignorierten ihn jedoch. Kiran räusperte sich, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
„Ach, lässt du dich auch nochmal blicken? Ich habe heute gar nicht mehr mit dir gerechnet.“ Alister klang sehr trocken und hielt es auch nicht für nötig sich umzudrehen, also wandte er sich an das Mädchen.
„Ich hab dir etwas mitgebracht.“ Vorsichtig zog er das Armband aus seiner Tasche und ging zu ihr rüber. „Gib mir mal deine Hand.“ als sie ihm die Rechte hinstreckte schüttelte er mit dem Kopf, „Die andere bitte.“
Sie streckte ihm die linke Hand hin und beobachtete, wie er ihr behutsam das Armband überstreifte und so hin schob, dass die beiden kleinen Narben nicht mehr zu sehen waren. Als ihr auffiel, was sein Ziel war, blickte sie ihm ins Gesicht und er lächelte sie an, zumindest versuchte er es, doch mehr als ein schiefes Grinsen brachte er nicht zustande, was Saskia zum Lachen brachte.
„Als Entschuldigung dafür, dass ich vorhin einfach abgehauen bin.“
„Ähm... danke?“ „Ich heiße übrigens Kiran.“
Sie nickte „Das hat dein Bruder schon erzählt.“
Er warf seinem Bruder einen flüchtigen Blick zu, der verdrehte die Augen und verließ die Küche. „Und du?“
„Saskia. Aber... Wo will er hin?“ Sie folgte dem verschwindenden Vampir mit ihren Augen.
Kiran zuckte mit den Schultern, „Er ist zwar mein Bruder, und wir haben auch durchaus gewisse Kräfte, aber hellsehen oder Gedanken lesen gehört nicht dazu.“
Er musterte sie. Ihr Alter brachte durchaus auch Vorteile mit sich. Kinder lernten schneller, waren neugieriger und allgemein offener für ihre neue Existenz. Wie gut sie es jedoch wirklich aufnahm, würde sich zeigen, sobald ihre Erinnerung zurückkehrte. Er selber war damals beinahe durchgedreht. Nicht, weil Sophie ihn zu einem Vampir gemacht hatte, sondern wegen dem, was sie dadurch zurückgelassen hatten. Auch Alister hatte darunter gelitten, doch ihm war es deutlich leichter gefallen, als seinem Bruder. Allerdings hatte ihr neues Dasein ihnen auch neue Möglichkeiten eröffnet und im Laufe der Jahre hatte er es geschafft, sich mit den meisten Dingen zu arrangieren. Nur die Unfähigkeit das Sonnenlicht zu ertragen, störte ihn immer mehr. Es ging dabei nicht um Licht, elektrisches Licht tat durch seine Helligkeit in den Augen weh und ohnehin konnten sie in völliger Finsternis noch besser sehen als ein Mensch an einem sonnigen Tag. Es war das angenehme Gefühl auf der Haut, die Wärme der Sonnenstrahlen an einem schönen Tag, was er vermisste und worauf er als Vampir verzichten musste. Seiner Meinung nach dennoch, ein sehr geringer Preis für das, was er dadurch gewonnen hatte.
„Hat Alister dir eigentlich schon etwas gezeigt?“
Sie nickte, „Das Haus!“
Er musste lachen, dieses Mal wirkte es etwas ehrlicher, als sein fehlgeschlagener Lächelversuch. „Nein, das meinte ich nicht. Ich meinte bezüglich deiner neuen Kräfte.“
Saskia schüttelte den Kopf.
„Nun gut, trink dein Glas leer und ich zeig dir etwas. Nur eine Kleinigkeit, die jedoch dein Leben retten kann.“
Ein warmes, vertrautes Gefühl überkam sie, als er sich erhob und ihr die Hand reichte. Sie fühlte sich geborgen und absolut sicher, ein Gefühl, das sie bei seinem Bruder nicht verspürt hatte, obwohl er von Anfang an freundlich zu ihr gewesen war, während Kiran einfach abgehauen war, ohne überhaupt mit ihr geredet zu haben. Nun führte er sie in den Garten. Am Himmel waren ein paar Sterne zu sehen, jedoch kein Mond. Ob er nun schon untergegangen, noch nicht aufgegangen war oder ob sie Neumond hatten wusste sie nicht, nur dass er nicht zu sehen war und sie trotzdem so gut sehen konnte, als wäre es helllichter Tag. Fragend blickte sie zu ihm hoch. Sein Blick war auf einen weit entfernten Punkt gerichtet, den sie nicht bestimmen konnte.
„Schließ die Augen und konzentriere dich auf das, was an deine Ohren dringt.“
Sie zögerte, sah ihn unsicher an, tat dann aber doch, wozu er sie aufgefordert hatte. Das Gewirr an verschiedenen Geräuschen kam ihr mit einem mal noch lauter vor, als es anfangs der Fall gewesen war und was ihr Gehirn schon beinahe vollständig weg gefiltert hatte. Nun aber, nach Ausschluss des Sehsinns, schien ihr der Lärm wieder äußerst präsent.
„Ich weiß es ist laut...“ flüsterte er plötzlich dicht an ihrem Ohr „Aber versuche, dich auf einzelne Dinge zu konzentrieren. Wir sind in der Lage ziemlich genau den Ursprungsort auszumachen, auch über größere Entfernungen hinweg und selbst kleine Unterschiede sind gut zu erkennen. So ist es uns möglich, Menschen am Klang ihrer Herzschläge auseinander zu halten.“
Fasziniert hatte sie seinen Worten gelauscht, wollte aber nun, wo er schwieg um ihr die Gelegenheit zu geben, diese Fähigkeit auszuprobieren, dieses auch tun. Doch anstatt dass sie ihre Sinne auf eines der lauten Geräusche, die aus dem Garten zu ihr drangen zu konzentrieren, lenkte sie ihre Konzentration auf Kiran, der direkt hinter ihr stand. Er war so nah bei ihr, und sie erwartete seinen Atem zu hören, seinen Herzschlag, oder rauschendes Blut, aber alles war still. Sie spürte seine Nähe, wie einen schützenden Umhang der sie umgab, aber diese absolute Abwesenheit von Geräuschen des Lebens jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Ihre Atmung stockte, dadurch fiel ihr auf, dass diese das einzige Geräusch war, was sie selber verursachte und erst jetzt wurde ihr bewusst, was seine Worte bedeuteten – die Worte, dass er sie umgebracht habe. Mit einem Mal begann sie zu zittern. Die Hände, die sanft und leicht auf ihren Schultern lagen drückten kurz zu und lösten sich dann. Sofort drehte sie sich um und hielt sich an ihm fest, während sie schluchzte. Tröstend legte er seine Arme um sie. Er spürte ihren Schmerz stärker als er je vermutet hätte und sie es sich derzeit vorstellen konnte. Sie war nun sein Kind und er würde versuchen sie vor allem zu beschützen, auch wenn er sich noch immer fragte, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Er ließ ihr Zeit, er wusste genau, dass das nötig war. Auch ohne die Erinnerung an ihr altes Leben, gab es zu viele Dinge, die ein junger Vampir begreifen und mit denen er klar kommen musste. Die Tatsache, nicht mehr zu leben, war eine davon, eine andere, dass ihre Beute nun Menschen waren, deren Leben sie bei der Nahrungsaufnahme zwar verschonen, aber auch auslöschen konnten und nicht immer war es möglich, die Kontrolle zu behalten – etwas, das er selber gut genug, eigentlich schon zu gut, kannte. Als sie sich langsam wieder beruhigte atmete er auf. Zum Glück würde sie seine Gefühle niemals so stark und intensiv wahrnehmen, wie er die ihren.
„Wir sollten erst einmal reingehen und dein Gesicht waschen.“ meinte er leise.
Sie sah ihn fragend an, „Wieso? Ich möchte es doch nochmal versuchen.“ tapfer kniff sie die Lippen zusammen.
„Später, erst einmal müssen wir dafür sorgen, dass du nicht mehr so furchterregend aussiehst.“ er zwinkerte ihr zu und wischte mit dem Daumen eine ihrer Tränen weg um ihr seinen roten Finger zu zeigen.
„Oh, tut mir leid...“ traurig blickte sie auf sein Hemd, das nun einige, rote Flecken aufwies „Ich habe dein Hemd ruiniert! Das wollte ich nicht...“
„Mach dir nichts draus, was meinst du, wie oft wir Blut aus unseren Klamotten waschen müssen? Die Farben sind schon mit Bedacht ausgewählt worden. Aber nun komm, wir müssen doch dafür sorgen, dass du wieder ansehnlich bist.“ Sie folgte ihm ins Bad und er nahm einen Waschlappen um ihre rot verschmierten Augen zu säubern. „Unsere Tränen sind wohl einer der wenigen Nachteile an unserem Dasein,“ meinte er gedankenverloren, „wenn wir nicht aufpassen, können sie uns verraten. Aber ich bin sicher, dass es dir mit der Zeit gelingen wird sie zu verbergen.“
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