Noch während ich mich setze, winkt er die Kellnerin herbei und bestellt für mich. Auf jeden Fall ist dies ein Mann voller Tatkraft und Selbstbewusstsein. Er kommt auch gleich zur Sache.
»Was reden Sie da von Oliver Bender? Sie haben ihn gesehen?« Er will vermutlich den Verlauf unseres Gespräches kontrollieren. Ich allerdings auch.
»Bevor ich Ihnen davon berichte, muss ich wissen, ob Sie bestätigen können, dass sein Grab leer war.«
Er stutzt. »Woher wissen Sie davon? Wie kann die Presse bereits darüber informiert sein?«
»Na ja, nicht die Presse. Nur ich . Sagen wir, ich habe so meine Quellen.«
»Ah, ich vermute, Sie kennen Pastor Kerber. Ich kann mir nicht denken, dass die Polizei aus Lüneburg Sie informiert hat.«
»Es stimmt. Gestern habe ich den Pfarrer von Himmelstal getroffen, genauer den Vakanzvertreter. Also, Herr Dr. Semmler, das Grab war leer? Und die Polizei vermutet, es sei geplündert worden?«
»Sie haben wohl doch Kontakte nach Lüneburg, scheint mir.« Es klingt ein wenig resigniert. Er merkt jetzt wohl, dass er mir nichts vormachen kann, sondern einige Informationen herausrücken muss, wenn er meine bekommen will.
»Sie haben Recht. Der Sarg war leer, abgesehen von einigen weißen Rosen, die seine Frau hineingelegt hatte. Oliver Benders Leichnam war samt seiner Kleidung und seiner Bibel verschwunden.«
»Und niemand weiß wohin?«
»Stimmt genau.«
Die Bemerkung kommt mir deutlich zu schnell, so als wolle er Rückfragen vermeiden.
»Nach der Exhumierung waren Sie dann gemeinsam mit dem Pastor und den Kripoleuten bei Frau Bender.«
Erstaunt hebt Dr. Semmler die Augenbraunen.
»Sie sind wirklich gut informiert! Haben Sie das von Frau Bender? Das kann ich mir absolut nicht vorstellen!«
»Warum nicht? Was macht Ihren Besuch bei der Witwe nach der Graböffnung so interessant, dass sie nicht darüber reden sollte?«
Mein Gegenüber schüttelt mit dem Kopf. Er ist nicht dumm. Er merkt, dass ich den Verhör-Spieß umgedreht habe.
»Es wurde Stillschweigen vereinbart, zum Schutz der Beteiligten. Im Übrigen erwarten Sie bitte nicht, dass ich Ihnen noch mehr erzähle, ohne etwas von Ihnen zu hören. Oder war das gegenüber meiner Sprechstundenhilfe nur ein Scherz?«
»Sie meinen das mit der Auferstehung?«
»Ja, genau das. Sie haben behauptet, Oliver Bender begegnet zu sein.«
»Und wenn?«
»Herr Jahnke, treiben Sie keine Spielchen mit mir. Entweder wir unterhalten uns wie erwachsene Männer miteinander oder ich trinke meinen Cappuccino aus und gehe!«
Er nimmt einen Schluck von seinem Kaffee. Ich überlege, wie ich weitermache und beschließe, die Karten auf den Tisch zu legen.
»Sie haben recht. Hätten Sie zurückgerufen, wenn ich nicht von Benders Auferstehung gesprochen hätte?«
»Vermutlich nicht.« Der Doktor lacht. »Es war also eine Finte, um mit mir zu reden?«
»Nicht nur. Ich habe zwei Zeugen, die Bender lebendig gesehen haben. Aber sorry, ich selbst bin ihm nicht begegnet.«
»Was sind das für Zeugen, die mit solchen Fantasiegeschichten an die Presse gehen?«
»Wieso Fantasiegeschichten? Die Beiden behaupten, Oliver tatsächlich gesehen zu haben. Aus meiner Sicht sind meine Informanten sehr nüchterne und glaubwürdige Leute. Aber Sie scheinen da eher skeptisch.«
Der Psychiater nickt mit etwas übertrieben ernster Miene.
»Ich bin Arzt und Naturwissenschaftler. Gleichzeitig bin ich Psychiater und Psychologe. Und was meinen Sie, was ich bereits alles an Wahnvorstellungen erlebt habe!«
»Und wie erklären Sie sich die Tatsache, dass es am Grab keinerlei Spuren einer Öffnung gab, bevor Sie und die Polizei die Grabstelle öffneten?«
»Ach, das wissen Sie also auch. Niemand, nicht einmal die Polizei, sollte jedoch behaupten, dass es keine Spuren gab. Wir haben keine gefunden – das ist alles! Bleiben wir bei den Fakten!«
»Nicht einmal der Beamte vom Innenministerium, der Spezialist für so etwas ist, hat eine Spur entdeckt?«
Dass ich davon weiß, überrascht Semmler erneut. Er wird immer vorsichtiger und zuckt jetzt nur mit den Achseln. Ich starte meinen nächsten Vorstoß.
»Mich würde wirklich interessieren, was Frau Bender zu alledem gesagt hat.«
Jetzt beobachte ich mein Gegenüber besonders genau. Corinna hat steif und fest behauptet, Oliver Bender habe sich mit seiner Frau auf der Terrasse unterhalten. Folglich ist Maren Bender die wichtigste Zeugin dafür, dass ihr Mann lebt. Semmler jedoch verzieht keine Miene. Ein Mann, der sich im Griff hat.
»Fragen Sie sie selbst.«
»Und wenn sie mir sagt, sie habe ihren Mann nicht nur gesehen, sondern sogar gesprochen?«
»Dann schalten Sie Ihren gesunden Menschenverstand ein.« Etwas verzögert ergänzt er übermäßig betont: »Das ist unmöglich.«
»Sie meinen also, Frau Bender bildet sich das dann ebenfalls ein? Aus Verlustgefühlen heraus, als Wunschvorstellung oder etwas in der Art? Was aber ist mit meinen Zeugen?«
»Da muss es eine ähnliche Erklärung geben. Ich müsste mit den beiden sprechen, um herauszufinden, was dahinter stecken könnte. Wenn es darum geht, sich selbst interessant zu machen, erfinden die Leute notfalls Ufos und Aliens – und glauben dann später selbst daran. Vielleicht geht es auch um kollektive Psychosen oder zumindest psychotische Störungen. Das kann sogar in Schizophrenie enden.«
»Und so etwas kann gleich mehrere Leute unabhängig voneinander befallen? Ansteckend wie eine Grippe? Das glauben Sie doch selbst nicht!«
Dr. Semmler zuckt mit den Achseln.
»Wer weiß das schon? Es gibt Fälle von Massenwahn. Denken Sie nur an diesen Charles Mason mit seiner Sekte. Und haben nicht auch Goebbels und die Nazis einen Massenwahn ausgelöst? Als das dritte Reich zusammenbrach, haben sich unzählige paranoide Fanatiker inklusive Hitler selbst das Leben genommen. Sie glauben ja nicht, wie widersinnig unser Gehirn arbeitet – und doch gleichzeitig logisch und rational erklärbar.«
Ich habe den Eindruck, es bringt nichts mehr, mit dem Psychiater zu diskutieren. Jetzt ist er auf seinem Fachgebiet und findet womöglich kein Ende.
»Genau genommen kann alles zum Wahn werden. Vor allem im Bereich der Religion finden wir unzählige Beispiele. Unsere Einrichtungen sind voll von Menschen, die sich zu etwas Besonderem berufen fühlen, sich für Jesus oder Gott halten, Stimmen hören, Geister nicht nur sehen, sondern auch mit ihnen reden und Visionen von toten Angehörigen haben.«
Ich habe so etwas natürlich auch gehört und gelesen. Vielleicht hätte ich die Sache ähnlich abgetan. Nun jedoch hat Semmler bestätigt, was nach Schorses Information auch im Polizeibericht steht: Das Grab war unversehrt und dennoch leer. Außerdem spüre ich deutlich, dass Semmler mehr weiß als er sagt. Meine Intuition hat mich selten im Stich gelassen, nennen wir es »journalistische Spürnase«. Wenn meine Zeugen recht haben, ist auch Maren Bender ihrem Mann begegnet. Vielleicht hat sie das ihren Besuchern an jenem Dienstag sogar gestanden.
»Dr. Semmler«, unterbreche ich ihn, »Ihre fachliche Kompetenz stellt niemand infrage. Ich glaube Ihnen das alles. Aber trotzdem bitte ich Sie, nur einen Moment lang einmal zu überlegen: Was, wenn Oliver Bender tatsächlich lebt?«
Dr. Semmler schiebt seine Tasse von sich weg und winkt der Kellnerin.
»Herr Jahnke, was, wenn Ihre Zeitung sich nicht an Fakten orientiert, sondern an Wahnvorstellungen? Ich verstehe ja, dass Sie eine ungewöhnliche Story suchen. Das hat der Stern mit den Hitlertagebüchern auch gewollt – und am Ende ist die Lügenblase geplatzt und hat dem Magazin Millionen gekostet. Nein, Herr Jahnke, ich bin nicht bereit, solchen Hypothesen auf Kosten des gesunden Menschenverstandes nachzugehen!«
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