„Die Zeit, ja die Zeit müsste der Angelpunkt sein“, begann er von neuem. „Die Zukunft ist abwesend, noch nicht geboren, sie kommt nach uns. Ein Fakt. Der Moment der Zukunft kann also nie geboren werden, er liegt immer davor. Zukunft und Vergangenheit haben ihre eigene Wahrheit, sie schlummert im Uterus der Zeit. Sie ist die Zeitlosigkeit. Kann ich mich in diese Zeitlosigkeit hineindenken, gleich Gegenwart? Nein, es muss ein anderer Ort sein als die Gegenwart, denn das ist Bewusstsein außerhalb der Zeit, nicht ohne sie. Dazu der Standpunkt des Bewusstseins, für das Unbewusste gibt es keine Zeit. Erstrebenswert also doch, das Zeitlose Bewusstsein.“
Ein Karussell! „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sind Messmarken des Bewusstseins, wie Raum und Zeit.“ Fausto hing in seiner Hängematte, er dachte sich die Gehirnwindungen wund, oft murmelte er seine Überlegungen leise vor sich hin. Edda war besorgt. „Edda, solange ich noch Zweifel habe, bin ich noch nicht dem Wahnsinn verfallen“. Diesen Satz hatte Edda auch schon einmal irgendwo gelesen.
„Der Gleichzeitigkeitseffekt ist jenseits der Zeit, man müsste zwischen den drei Zeiten frei schweben können. Aber wo ist man in diesem Zwischenraum? In diesem Gap, zwischen Gestern und Heute, zwischen Vergangenheit und Zukunft des Gestern. Wie groß ist dieses Gap? Demnach müsste es viele dieser Zwischenräume geben, unendlich viele. Zwischen Allem könnte es diesen Raum geben, nicht nur zwischen den Zeiten. Auch zwischen den Noten, den Zeilen, den Worten, dem Leben? Das Wort Zwischenraum betitelt dieses Phänomen sehr treffend. Ich bin fast sicher, man kann in diesem Raum zwischen der Zeit und Allem verweilen, vielleicht ist Zwischenzeit der Tod, oder entspricht der Zeit nach dem Tod und vor der Wiedergeburt.“
Edda schwieg, diese Zwischenzeit als Raum interessierte auch sie. Mit Reinkarnation hatte sie allerdings wenig im Sinn. Nur hätte sie das in Worten nicht so ausdrücken können oder wollen, ohne ihn zu verletzen. Sie fand diese Gedanken unnütz und verrückt, man kam mit ihnen doch nicht von der Stelle, niemand konnte mit Sicherheit darüber Bescheid wissen. Für sie waren solche Überlegungen immer noch verwirrend, wenn nicht sogar destruktiv. Auf jeden Fall sollte man sie im Griff haben.
Faustos Gedankenlamento hatte sie wieder traurig gestimmt. Warum konnte er sich nicht einfach an ihrem Zusammensein erfreuen. Er dachte laut vor sich hin und erwartete Eddas Einsatz. Eine Flasche Ballentine´s stand griffbereit neben seiner Hängematte. Edda sah besorgt auf den Flaschenpegel. Fausto grinste. “Ich muss mich doch erden“, war sein Einwand.
Sie war gerade nach Hause gekommen, wie immer erschöpft von ihrem Büroalltag, den sie verabscheute. Sie freute sich Fausto zu sehen. „Edda, mein Herz, ich bin sicher, man kann lernen zu entscheiden, nach Belieben zwischen jeweils einer der drei Zeiten zu weilen.“ Sie sah ihn an und versuchte sich nach dem ausführlichen Begrüßungskuss einen Weg durch die Wohnung zu bahnen. Der Eisschrank war leer. Er hatte nicht eingekauft. Die Küche war ein Saustall, und sie war hungrig.
„Die Römer sind gegangen“, sagte Fausto, „sie sind vor uns gegangen, O.K.? Was sie schon hinter sich haben ist noch vor uns. Das heißt, ihre Vergangenheit steht uns noch bevor. Edda, wo bist du denn, kannst du mir folgen!“ Edda nestelte an einem eingetrockneten Stück Gouda herum und versuchte ihm Gehör zu schenken.
„Es gibt demnach mehrere Vergangenheiten, A, die individuelle, B, die universelle und C, die wahre Vergangenheit, jene, welche in der Gegenwart lebt. Eine Vergangenheit, die jede Zeit aufhebt, sie antreibt ohne zu vergehen.“
Die Haustür krachte ins Schloss, sie war geflohen. Täglich, nach ihrem Bürotag auch noch einzukaufen, zu kochen, Geschirr abzuwaschen und zusätzlich der Forderung gerecht werden, seine Gedankenspiele aufmerksam zu verfolgen, kostete sie ungeheure Mühe. Sie machte einen Haken, mied den Supermarkt, fand sich im „Schornstein“ wieder, aß ein Stück Käse mit Senf und trank ein Alt Bier. Seit Monaten erwartete sie am Abend die Alternative, Küchendienst oder Pizzeria. Diese Routine war nun durchbrochen, sie hatte sich der Option Käse mit Senf gestellt. Faustos Verhalten dem Alltag gegenüber war ihr zur Anstrengung geworden. Er rührte keinen Fingen im Haushalt und würde sich eher ein Bein brechen, beim Übersteigen seiner nach dem Gebrauch liegengelassener Klamotten, als irgendetwas einmal zur Seite zu falten oder sogar zu säubern. Er hatte noch nie seine Wohnung geputzt. Keine Wohnung! Damit vergeudete Fausto nicht seine Zeit. Das war bisher auch nicht nötig gewesen, es hatte immer Frauen gegeben, die sich der Illusion hingaben, in Faustos Leben zu gehören, wenn sie sich eifrig darum bemühten seinen Mist zu lichten. Jetzt war Edda da! So, hatte sie sich das nicht vorgestellt.
Die täglich notwendigen Griffe, um einen Haushalts aufrecht zu erhalten, gab es nun einmal, das Leben hatte das Traumpaar, Edda und Fausto, nicht davor verschont. Diese Notwendigkeiten drohten ihr Spiel zu verschlingen, und wie Fausto meinte, in Zeterei über den Müll oder Abwasch abzurutschen. Seit einiger Zeit bemängelte sie, mit Unmut gewürzten Worten, seinen Realitätsverlust. Er fand sie, seit genau jener Zeit, nämlich seit sie ins Büro ging, spießig. Das war für Edda keine Beleidigung, da sie gerne ein wenig spießig gewesen wäre, denn das hatte sie in ihrem Elternhaus vermisst.
„Sei nicht so ungemütlich“, beklagte Fausto sich, wenn sie sich überwunden hatte den Staubsauger in Gang zu setzen und leere Flaschen, Zigarettenkippen und stapelweise gelesene Zeitungen entsorgte, die überall ihren Platz hatten. Ihr lag auf der Zunge, entweder kommt eine Putzfrau zweimal in der Woche, oder ich gehe. Dann fiel ihr die Adolf Geschichte ein, und sie schwieg. Er sollte von selbst erkennen, dass eine Putzhilfe dringend nötig war. Um seine Frau zu entlasten! Auch dieser Gedanke gefiel Edda nicht, sie wollte ihren Liebsten ja nicht erziehen. Auf keinen Fall!
Fausto war sehr mit seiner Lichtsuche beschäftigt. Neben dieser Suche und seiner Schreiberei blieb wenig Sinn für die Nestpflege. Er kümmerte sich äußerst selten um den Abwasch, und falls er sich dazu herabgelassen hatte, erledigte er ihn mit eigener Methode. Wenn Geschirr und Besteck bis zum letzten Löffel benutzt waren, verschwand oft, falls sich die angetrockneten Reste nicht sofort und auf der Stelle lösen ließen, ein Teil davon im großen Müllsack. Ein Einweichen der Teller lag außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Es passierte nicht immer aber recht oft, dass gebrauchtes Geschirr im Müll landete, und Fausto, bevor Edda zurück war, mit einer neuen Billiggarnitur für die Küche wieder auftauchte. Er benutzte es dann direkt aus den Kartons.
Edda hatte ihren Fulltimejob, sie huschte außerdem sehr oft in den Keller, ihr Atelier, und sie war sehr mit der Pflege ihrer Liebe zu Fausto beschäftigt, die sich zum großen Teil im „Schornstein“ abspielte. Der Haushalt löste sich von seinem Begriff, das Chaos war vorhersehbar. Sie aßen im „Amalfi“ ihre Pizza, und die Wäsche kam gebügelt aus der Wäscherei zurück. Das verschlang Unmengen an Faustos Einkommen, was zu dieser Zeit noch kein Problem war. Er hielt diese Ausgaben für selbstverständlich, da er es anders nicht kannte. Er schrieb mit Engagement und wenig Leidenschaft. Alles, was er zu Papier brachte, verkaufte sich, und da er jetzt keine Romanprojekte mehr vor der Brust hatte, schrieb er am liebsten Drehbücher und für den Rundfunk. Eine Rundfunk Serie, die er fabriziert hatte, ging durch die ganze Welt, das freute ihn, aber es war eine verhaltene Freude. Über seine Arbeit als Schriftsteller und seinen ganz persönlichen Kram, redete Fausto in der Kneipe nicht. Seine Trinkkumpanen wussten was er beruflich machte, jedoch setzte er sich niemals damit in Pose. Als er aber eine kleine Filmproduktion, mit einem korrupten Partner, zum Leben erweckt hatte, zu einem kurzen Leben, sprach sich das in der Damenwelt wie ein Lauffeuer herum. Sie umschwirrten ihn noch aufdringlicher, obwohl er nur pädagogische Filme drehte. Für Eltern, Lehrer und Jugendliche geeignet und hauptsächlich auch mit diesen als Akteure. Fausto hatte auch eine Ausbildung als Regisseur und Kameramann in New York absolviert. Ein Film hatte ihm sogar, kurz bevor Edda ihn kennengelernt hatte, einen begehrten, hochdotierten Preis in Berlin eingebracht. Ohne Zweifel, er verstand etwas von diesem Fach, aber gegen die ganz Großen kam er nicht an. Ähnlich verhielt es sich mit seiner literarischen Laufbahn. Er brachte zweimal ein beachtenswertes Buch zustande und verzettelte sich danach im Labyrinth der Wiederholungen. So verlor sich seine Qualität in Wiederholungen mit forciertem Charme. Seiten, die schon rot von ihm geschrieben worden waren, die er nur blau einfärbte, im Glauben etwas Neues geschaffen zu haben. Seine Kritiker zerrissen ihn, und seine Leser verloren das Interesse. Das störte ihn nicht, nicht so, wie man hätte annehmen sollen. Im Gegenteil, außer dass die Tantieme schwanden, fühlte er sich erleichtert. Er schrieb mit neuem Elan, Essays, Artikel und Berichterstattungen. Sogar Literaturkritiken, unter einem Pseudonym. Sie waren gut, waren gefragt, doch hatten sie den geforderten journalistischen Stil, mit welchem er sein schriftstellerisches Talent auf Eis gelegt hatte. Früher hatte er sich geweigert auf Bestellung zu schreiben und behauptet, er schreibe doch nicht um zu verkaufen, er sei doch kein Schreibknecht! Jetzt schrieb er nur noch im Auftrag und für gute Bezahlung. So drehen sich Meinungen und Tatsachen unaufhörlich um sich selbst, als könnten sie nicht beständig sein, als seien sie der Gravitation verpflichtet.
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