Ehe sie sich noch besinnen kann, ist er fort.
In einem Zimmer im ersten Stock eines Hauses an der Jägerstraße geht ein schwerer, schwärzlicher Mann in Hemd und Hose auf und ab. Er geht auf und ab, er pfeift dabei die Marseillaise, seine Füße in ledernen Hausschuhen gehen sachte über den mit Linoleum belegten Boden.
Ab und zu tritt der Mann ans Fenster und sieht auf die Jägerstraße hinunter, die auch etwas von dem Trubel abbekommen hat, der an diesem ersten Mobilmachungsnachmittag Unter den Linden herrscht. Dann schüttelt der Mann den Kopf, er pfeift leiser, aber er marschiert weiter.
Nun fliegt draußen die Etagentür auf. Rumm! Rumm! schlägt sie zu, eilige Schritte kommen, die Tür wird mit einem Ruck geöffnet, und in ihrem Rahmen steht rasch atmend, mit geröteten Wangen Erich Hackendahl.
Der schwere dunkle Mann sieht den jungen Menschen ernst an. „Nun …?“ fragt er.
Erich ruft nur: „Mobil!“
Der Mann sieht ihn weiter unverwandt an, er nimmt dabei die Weste vom Stuhl und fängt an, sie überzuziehen. „Das war zu erwarten“, sagt er schließlich langsam. „Aber mobil heißt noch nicht Krieg!“
„Ach, Herr Doktor!“ ruft Erich noch immer ganz atemlos. „Die Menschen sind ja so begeistert! Sie haben gesungen: ›Nun danket alle Gott‹. Ich habe auch mitgesungen, Herr Doktor.“
„Warum sollen sie nicht begeistert sein?“ fragt der Doktor und fährt in die Jacke. „Es ist doch etwas Neues! – Und dann hat wahrscheinlich ihr strahlender Kaiser wieder einmal geredet, von schimmernder Wehr, von Feinden in aller Welt …“
„Nichts! Nichts! Nichts von alledem!“ ruft der Junge. „Ganz falsch, Herr Doktor! Ein Schutzmann ist aus dem Portal gekommen, ein ganz einfacher Blauer, und hat die Mobilmachung bekanntgemacht. Es war herrlich!“
„Er ist ein großer Theatermann, euer Heldenkaiser“, sagt der schwere Mann ungerührt. „Jetzt macht er es also mit der altpreußischen Schlichtheit – er hat Friedrich den Einzigen kopiert. Aber, Junge, Erich, merkst du denn nicht, daß du ihm auf den Leim gehst – du kennst doch seine leidenschaftliche Liebe für Prunk und Trara! Und plötzlich ein einfacher Schutzmann – das ist doch alles Mache!“
„Es war aber keine Mache, als wir den Choral sangen“, antwortete der Junge, fast trotzig.
„Und hast du dir denn nicht die Leute angesehen, die da sangen? Das war doch nicht das Volk, mein Sohn, nicht der Arbeiter, der die Werte schafft. Das waren dicke Bürger, und wenn die ihrem Gott für die Mobilmachung danken, so danken sie ihm für das große Geschäft, das sie wittern. Das ganz große Geschäft, Kriegsgewinne aus der Leiche des Bruders …“
„Oh, pfui, pfui, Herr Doktor!“ rief Erich leidenschaftlich. „Sie sind ja nicht dabeigewesen! Die haben nicht an Geschäft gedacht, die haben an Deutschland gedacht, das bedroht ist, von Rußland, von Frankreich, vielleicht sogar von England …“
„Überlege doch ruhig, Erich“, sagte der dunkle Mann, ungerührt von dem Ausbruch des Jungen. „Du hast doch einen guten Verstand, denke doch einmal nach! Wenn wir jetzt mobil machen, bedrohen wir doch wieder die anderen, und vielleicht steht zur gleichen Stunde der Arbeiter an der Newa und an der Seine und fühlt sein Vaterland bedroht, nun aber von uns!“
Erich stand betroffen, nachdenklich. „Die anderen …“, fing er an.
Der Mann lächelte. „Jetzt willst du sagen, Erich, daß die anderen angefangen haben – wie die Kinder einander bei der Mutter verklagen. Wir sind aber keine Kinder mehr, Erich. Der Arbeiter, Erich, hat kein anderes Vaterland als die Arbeiterschaft der ganzen Welt …“
„Aber Deutschland …!“
„Deutschland, Erich, ist heute noch ein Land, in dem der Arbeiter rechtlos ist. ›Arbeite und kusche‹ ist hier die Losung. Der deutsche Arbeiter hat nur einen Freund auf der Welt, das ist der Arbeiter in Frankreich, der Arbeiter in Rußland – und auf den soll er schießen?“ Plötzlich jäh: „Wir sind hundertzehn sozialdemokratische Abgeordnete im Reichstag – wir bewilligen die Kriegskredite nicht, wir sagen nein. Mit uns sagt nein fast ein Drittel des deutschen Volkes.“
„Ich habe am Schloß gestanden“, fing Erich nach einer Pause wieder hartnäckig an. „Ich habe sie singen hören, ich habe mitgesungen, Arbeiter haben mitgesungen. Es kann keine schlechte Sache sein, die uns so begeistert hat …“
„Es ist eine schlechte Sache. Du bist jetzt berauscht, Erich, aber es ist ein schlimmer Rausch. – Du weißt noch nicht, was das ist, ein Krieg, wenn Menschen Menschen erschießen, wenn es einer Mutter Sohn erlaubt ist, einer anderen Mutter Sohn zu töten, zu verstümmeln …“
„Und wissen Sie denn, was das ist: Krieg?“ rief Erich.
„Ich weiß es. Seit meiner Jugend habe ich für den Arbeiter gekämpft, auch das war ein Krieg, es gab alle Tage Tote, Verstümmelte … Aber ich habe gewußt, wofür ich kämpfte, dafür, daß der deutsche Arbeiter, und mit ihm der Arbeiter der Welt, ein wenig glücklicher, ein wenig leichter lebte. Wofür kämpft ihr? Sag es doch!“
„Für die Verteidigung Deutschlands!“
„Aber was ist denn dein Deutschland?! Hat es ein Haus für seinen Sohn, tägliches Brot für ihn, auch nur das Recht auf Arbeit?! Soll er sein verwanztes Bett verteidigen, den Schutzmann, der ihm seine Versammlungen auflöst? Das hat er in der ganzen Welt, dafür braucht er kein Deutschland!“
„Es muß falsch sein, was Sie sagen“, antwortete Erich. „Ich kann es nicht mit Worten sagen, aber ich fühle das: Deutschland ist noch etwas anderes … Und wenn der Arbeiter wirklich nur ein verwanztes Bett hat, wie Sie sagen, so wird er mit ihm in Deutschland unter Deutschen glücklicher sein als in der ganzen anderen Welt …“
Sie standen eine Weile schweigend, auf der Straße schwoll der Jubel und Trubel und sank wieder, schwoll und sank, es war wie Brandung des Meeres …
Der große Mann bewegte sich, wie aus einem Traum. „Du mußt jetzt gehen, Erich“, sagte er ganz ruhig. „Ich kann dich nicht länger bei mir behalten.“
Erich machte eine Bewegung.
„Nein, Erich, ich schicke dich nicht im Ärger fort. Aber ich bin Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei, ich kann keinen Kriegsbegeisterten als Sekretär um mich haben. Das geht nicht. Als du vor vier, fünf Wochen zu mir kamst, ratlos, hilflos, da dachte ich, ich könnte dir helfen. Du würdest einer der Unseren werden, ein Mitarbeiter am großen Werk der Befreiung der Arbeiterschaft …“
„Sie waren sehr gut zu mir, Herr Doktor“, sagte Erich stockend.
„Du hattest Schlimmes getan, Erich, und du wolltest noch Schlimmeres tun, das Schlimmste, was ein Mensch tun kann: dich wissentlich, willentlich in den Dreck legen und verkommen. Ich kannte dich aus den Debattierversammlungen, ich kannte deinen schnellen, scharfen Geist, etwas Kritisches, das dich mit deinem behaglichen Daheim unzufrieden sein ließ. Du schienst mir ein Umstürzler, ein Rebell – und wir brauchen Rebellen.“
Erich machte eine hastige Bewegung, besann sich und schwieg.
„Du willst sagen“, sprach der Abgeordnete, „daß du noch immer ein Rebell bist. Aber du bist es nicht, denn du willst in einen Krieg ziehen, der die bestehende schlechte Ordnung verteidigt. Denn du willst doch mit, nicht wahr? Kriegsfreiwilliger – ja?“
Erich nickte trotzig. „Ich muß“, sagte er. „Ich fühle, das Volk will diesen Krieg, nicht ich allein!“
„So?“ fragte der Abgeordnete spöttisch. „Wollen wir jetzt schon einen Krieg? Ich dachte, wir verteidigen uns. Nun, wir Sozialdemokraten jedenfalls wollen ihn nicht, wir werden gegen Regierung und Kriegskredite stimmen. So werden die Arbeiter in aller Welt tun – und es wird aus sein mit euerm Krieg!“
Er schnippte mit den Fingern.
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