Als Jürgen vom Schülerbus heimkam und vor die Haustür trat, glaubte er dem Duft nach, der da aus dem Schlüsselloch und dem leicht gekippten Küchenfenster heraustrat, dass da im Haus etwas nicht stimmen mag, denn so hat es seit Omas Verschwinden nie mehr aus dem Haus heraus gerochen, wenn er am frühen Nachmittag aus der Schule heimgekommen ist. Es roch da heute viel festlicher als sonst, als in den letzten vielen, vergangenen Monaten, denn da roch es nach einfacher Mannskost, ohne dem berühmten „Haus“davor, und heute wieder nach deftiger Hausmanns-, nein es roch heute wieder nach Hausfrauenkost, wie es immer früher gerochen hat, als Oma Wilma noch die Küchenfee am Herd in der Küche war und die Kochregie in ihrem Heiligtum, der Küche führte. Doch kaum war er im Haus, da hat er auch schon seine alte Oma von einst, wie annodazumal am Küchenofen hantieren gesehen und ich hörte ihn nur noch lautstark Oma Wilma rufen und die recht langen, nächsten fünf Minuten waren erstmals in der Küche für Oma Wilma und Jürgen die obligatorische Küchenhantiersendepause, denn die beiden lagen sich schweigend in den Armen und beide Herzen waren Sender und Empfänger in einem Organ, was beiden sicher sehr gut getan hat und was ich auf Anhieb noch nicht so konnte, denn so wie sich Oma Wilma in den letzten Monaten mir gegenüber benommen hat , da ist bestimmt auch ein Großteil ihrer Benehmität bei mir nicht spurlos unter die Haut gefahren und die Folgen daraus, die spüre ich heute noch. Während ich als der stille Zuschauer in der Küche in den pruzzelnden Töpfen die Rührregie übernahm, die da auf dem ihr doch so vertrauten und lange von ihr nicht mehr benutzten Herd standen, dass ja bloß nichts, vor lauter Begrüßungsfeier der beiden in ihnen anbrennen mag und der Herzensspaß an der Wiedersehensfreude nicht auch noch in einem Topf anbrennen möge. Oma Wilma sind bald bei dieser schon lange nicht mehr stattgefundenen Begrüßungszeremonie mit ihrem Enkelsohn Jürgen die Tränen aus den Augen, für alle gut sichtbar gelaufen und sicher auch dabei dachte, was sie doch beinahe alles durch ihren falschen Eigensinn, durch ihren verkehrten Stolz oder ihren so rechthaberischen Eigensinn, der sicher zum Zweitenmal in ihr durchbrach auch für alle, alles kaputtgemacht hätte. Und dann hat Oma Wilma Jürgen erzählt, dass sie heute Morgen, nach der Visite erfahren hat, dass sie, wenn sie möchte, wieder nach Spukhausen zurückkehren kann und sie mich dann gleich angerufen hat und ich sie auch bald holen kam. Und sie sicher überglücklich ist, wieder da sein zu dürfen, was einst ihr wahres und zeitweise so verkanntes Zuhause in Wahrheit war und doch auch immer noch ist und auch unser aller wahres Zuhause noch möglichst recht lange dann für alle sein soll und so etwas, was da geschehen ist, nie wieder passieren darf. Dass sie doch so kurzsichtig sein konnte, dass kann sie sich immer noch nicht erklären. Nach dem Mittagessen, für Wilma und mir war es unser zweites heute, haben Oma und Jürgen mich gebeten doch ein bisschen an die Luft zu gehen. Sicher wollte Oma Wilma Jürgen etwas ausfragen, was wir beide, während ihrer langen Abwesenheit hier so alles getrieben haben, wer denn immer oder hinundwieder für uns gekocht hat oder auch über seine gar nicht so leichte, aber überstandene Leukämie, von der man zurzeit nichts an ihm, dem Himmel sei‘s gedankt, nichts merken konnte, weder an seinem Aussehen noch an seinem Umgang. Ich ging hinaus in den Garten an das freigelegte Fundament, das Heintje seinerzeit als das Fundament eines Sakralbaus bezeichnet hat und er darüber vielleicht einmal seinen Altersruhesitz bauen will, setzte mich auf den Rand und ließ die Beine in den leeren Innenraum nach innen baumeln, so dass ich jederzeit unser Häuschen im Blick hatte und sehen konnte wer da ein- und ausging oder was sich da abspielen sollte. Ich habe da meinen Gedanken freien Lauf gelassen. Doch plötzlich habe ich mich recht kräftig in meinen Oberschenkel gezwickt, ob ich auch munter bin und nicht gar, noch total munter, anfange zu träumen, denn ich glaubte, dass Gereon mir gegenüber, stumm, etwa einen Meter über dem Boden ruhig schwebend und recht traurig zu mir herüberschauen würde und mir etwas sagen wolle, es aber noch nicht kann, dass etwas Unsichtbares ihn daran hindern würde, das auch für mich unsichtbar da zwischen uns stehen würde. Doch bald habe ich erfahren, dass dieses heutige sich sehen dürfen erst der Anfang einer längeren Begegnungsreihe sein sollte. Ich meinte, je länger ich ihn da schwebend betrachtete, dass er sich, ohne dass es da etwas zu hören gab, dass er sich bedankt hat, dass ich mich um Jürgen immer noch so kümmere, obwohl er doch gar nicht mein Enkelsohn ist, dass er hier bei uns das Zuhause gefunden hat, das er daheim bei ihnen beiden sicher nicht gefunden hätte und ihm es heute sicher nicht besser gehen würde als ihrem ersten Sohn Frieder, dem es sicher heute auch gut gehen könnte, gerade so wie es auch Jürgen geht, wenn wir ihn ein bisschen anders erzogen hätten oder er früher zu euch hätte kommen wollte. Und ich meinte, dass er mir gedanklich auch sagte, dass ich ja heute die wahre Geschichte um ihn her kenne, an der er sicher keine Schuld habe und er immer noch seinen wahren Vater hier in dieser Welt suche, der sicher der alleinige Schuldige an seinem Schicksal ist, von dem ich sicher all das habe, was einen Faulpelz, einen wahren Nichtstuer auszeichnet. Nach etwa einer Stunde ist auch Wilma mit einer Decke, die noch immer da im Haus gelegen ist, wie zu ihrer Zeit schon immer da gelegen ist, aus dem Haus zu mir gekommen und hat neben mir auf der kühlen und breiten Fundamentmauer Platz genommen und fragte mich woran ich jetzt denke und ich ihr sagte, dass ich hier an die Steine gerade gedacht habe, auf denen wir jetzt sitzen, was sie im Laufe der Geschichte da alles erlebt haben; wie viele seelische Hochs oder Tief es wohl gewesen waren. Und da glaubte ich, dass Gereon, der da uns gegenüber gestanden ist in Gedanken zu mir gesprochen hat und er sich bei mir bedankt hat für all das, was ich in der letzten Zeit für Jürgen ohne dich Wilma getan habe, besonders für all das, was ihn wieder von der schweren Krankheit hat gesund werden lassen, obwohl sein Bruder Frieder für alle so große und viele Schwierigkeiten gemacht hat und er ja nicht mein wahrer Enkelsohn ist und dass er auch unser Vorgehen bei Frieders so eigenartigen Knochenmarkspende sehr gut geheißen hat. Und zu Frieder hat er mir, so glaub ich gesagt, dass wenn er früher bei uns aufgetaucht wär, und Henriette auf ihre Art nicht dazwischengefunkt hätte, wär er heute bestimmt auch ein anderer Mensch, vielleicht ähnlich wie auch Jürgen, bei dem es doch bisher in seinem Leben kaum einen Leerlauf, seit dem er bei uns ist, gegeben hat, weder in der Schule, noch sonst wie und auch wo. Nur für mich und Henriette, ward ihr beide, womit er dich Wilma und auch mich meinte, die simplen Spießer und sie beide damals keineswegs es wollten, dass ihre Kinder auch so werden wie wir es geworden sind, spießiges Kleinbürgertum, die nur das Schaffen kennen und nicht wissen was es heißt auch mal so richtig zu faulenzen, oder es zu können oder dem Nichtstun zu frönen, was uns beiden aber nichts gebracht hat, was sie beide leider viel zu spät gemerkt haben und jetzt im Nachhinein er sagen kann, dass wir einfach nicht zurückwollten, denn dann hätten sie auch ihr Versagen eingestehen müssen. Und was aus uns Dreien, ohne Jürgen geworden ist, das wisst ihr ja. Und nun hoffe ich, dass Jürgen, dank eurer Hilfe es schaffen wird auch einmal da so da zustehen wo du und meine Mutter Wilma einmal habt stehen dürfen und noch immer stehen könnt, auf der Seite der Rechtschaffenden, die doch immer zufriedener auf ihr und euer Leben blicken könnt, als sie, Henriette und Frieder es heute tun können, nämlich auf einen Scherbenhaufen. Während ich das alles Wilma erzählte, habe ich zunächst es gar nicht bemerkt, wie Wilma sich mehr und mehr an mich lehnte und wir uns gegenseitig in der späten Herbstsonne nicht nur gegenseitig wärmten, sondern auch die innere, langvermisste Wärme gegenseitig schenkten, was sicherlich nicht nur mir auch sehr gut tat, sondern auch Wilma und ich auch merkte, dass wir beide dieses Gefühl schon lange nicht mehr hatten, besonders während der Zeit, als sie uns alle in Spukhausen am liebsten in die hinterste Hölle oder vielleicht gar lebend und unbeschützt in die zugemauerte Gaskammer an der äußeren Kellerwand gewünscht hätte, um da noch lebendig im dichten Gas auch zu schmoren und dabei war ich doch gar nicht schuld daran, dass sie mit ihrer ersten und ach so großen Liebe Schiffbruch erlitten hat, denn ich habe sie ja erst dann als die Sitzengelassene kennengelernt, als es mit ihrer ganz großen und ersten Liebe das Feuer ganz plötzlich erloschen ist und sie hilflos vor ihrem ganz großen und selbstverschuldeten ruinösen Haufen Elend stand, aus dem sie damals keinen Ausweg sah; wovon ich doch eigentlich damals nichts bemerkt habe. Ich war wahrlich nicht schuld daran, dass aus ihrer so großen und missbrauchten Liebe nichts geworden ist. Ich habe sie erst dann auch kennengelernt, um noch im allerletzten Moment und das noch ganz unauffällig den großen Lückenbüßer spielen zu können oder alles wieder, ohne viel Aufsehen zu erwecken ins rechte Lot zu rücken. Während Wilma neben mir saß, ist das Bild, das mir gegenüber über der Erde schwebenden Gereons wieder langsam im Nichts verschwunden und ich glaube dass Wilma dieses Bild nicht gesehen hat, denn wenn sie es gesehen hätte, dann hätte ich bestimmt es an ihr auch bemerkt, denn Gereon war es und ist es auch heute noch, der ihr Leben geprägt hat wie keines der beiden anderen Kinder danach, wie eben ein Kind, das eigentlich zwei Väter hat, einen unbekannten leiblichen und einen bekannten nur Pflege- oder Ziehvater. Vielleicht hat doch das Gewissen auch bei ihr hinundwieder sie ein kleines Bisschen in dieser Beziehung gepiesackt und dann bei der großen Leichenschau es dann zum tiefen und schmerzhaften Erwachen für sie kam, ein schmerzhaftes Erwachen, dass scheinbar sie fast in den eigenen Ruin getrieben hätte und ihr, ihre Unehrlichkeit bewusst wurde oder alle guten Vorsätze in ihr vergessen ließ und momentan nicht weiter wusste, denn das Gewissen wollte einfach dieses von ihr betriebene Doppelspielchen mit mir nicht mehr wie bisher so weiter mitspielen und ihr Inneres begann haarscharf an der Realität vorbei zu revoltieren.
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