Kalypso fröstelte plötzlich. Erregt sagte sie: "Hart seid ihr, Götter, und gönnt einem aber auch gar nichts. Es ist der pure Neid, weil ich als Göttin mit einem Mann schlafe und es auch noch hinkriege, dass er gerne bei mir ist. Als die zarte Eos sich in Orion verliebte, wart ihr genauso eifersüchtig, ihr Seligen da oben, die ihr das Leben angeblich so locker seht. Ihr wart erst zufrieden, als die keusche Artemis es ihm besorgte und ihm mit ihren tödlichen Pfeilen ein sanftes Ende bereitete, damals in Ortygia. Die gleiche Geschichte bei Iason, als Demeter mit den schönen Haaren ihrem starken Verlangen nachgab und sich aus Liebe auf dem bewussten Acker mit ihm vereinigte. Zeus bekam Wind davon und schleuderte seinen Blitzstahl nach ihm: tot.
Und nun äugt ihr Götter neidisch auf mich, weil wieder ein Mensch und Mann im Spiel ist. Dabei habe ich ihn selbst gerettet und sozusagen für mich an Land gezogen. Er trieb mutterseelenallein auf dem Wasser, klammerte sich an einen Schiffskiel. Zeus hatte mit dem Blitzstrahl sein schnelles Schiff mitten auf hoher See in Stücke geschlagen, wobei alle seine mutigen Gefährten zugrunde gingen. Nur ihn trieben Wind und Wellen hier ans Ufer. Ich mochte ihn, nahm ihn auf, pflegte ihn; ja, ich habe ihm sogar ewige Jugend und Unsterblichkeit angeboten. Nun gut, dem Willen des Herrschers der Aigis muss man sich beugen, keiner der anderen Götter kommt gegen ihn an. Dann muss er also wieder hinaus aufs rastlose Meer, wenn Zeus es unbedingt so will. Ich kann jedoch nicht viel für ihn tun, ich verfüge weder über Schiffe und Ruder noch über Mannschaften, die ihn über die See befördern könnten. Aber ich werde es ihm schonend beibringen und ihm auch ein paar gute Tipps geben, wie er unbeschadet ins Land seiner Väter kommt."
Der Götterbote antwortete: "Also lass ihn ziehen; und vergiss es nicht, sonst wird Zeus ärgerlich. Und seinen Zorn hättest allein du auszubaden." Nach diesen Worten machte sich der starke Argosbezwinger und Götterbote auf und davon.
Die mächtige Nymphe war sich durchaus im Klaren darüber, was ein Befehl war. Sie ging sofort Odysseus suchen. Der tapfere Held saß am Meer, wie immer mit Tränen in den Augen: Aus und vorbei, zerronnen der glückliche Lebensabschnitt, Heimweh verspürte er. Er hatte genug von der Nymphe. Zwar schlief er jede Nacht in der gewölbten Grotte mit ihr, aber eigentlich wollte er es nicht. Er zwang sich dazu, weil sie es so gerne tat. Am Tag saß er dann schlecht gelaunt auf den Felsen am Meer, grübelte und seufzte; über die unruhige, endlose Salzflut schaute er hin, das Herz voller Sorgen, die Augen voller Tränen.
Da trat Kalypso, die Göttliche, zu ihm und sagte: "Nun hör auf zu klagen, du Ärmster! Du musst dein Leben nicht weiter vergeuden. Ich habe ernsthaft nachgedacht und mich entschlossen, dich gehen zu lassen. Also los! Fälle ein paar kräftige Bäume mit der Axt, binde sie zu einem Floß zusammen. Darüber zimmerst du aus Balken ein Deck, damit du sicher und trocken über die feuchten Wogen getragen wirst. Ich gebe dir reichlich Verpflegung mit, sowie Wasser und roten Wein. Du wirst schon nicht verhungern. Ich kleide dich neu ein und besorge dir zu guter Letzt noch günstigen Wind. So wirst du glücklich und wohlbehalten im Land deiner Väter ankommen; das heißt, vorausgesetzt, dass es auch den Göttern beliebt, die im weiten Himmel wohnen. Denn an die reiche ich, was Weitsicht und Macht betrifft, nicht heran."
Da fröstelte es Odysseus plötzlich, er sagte hastig: "Da steckt irgendwas dahinter, Göttin, du willst doch eigentlich, dass ich bleibe. Und auf einmal rätst du mir, mit einem kleinen Floß eine derart riesige Entfernung zurückzulegen, über ein abgrundtief gefährliches, grausames Meer, das selbst gutgebaute, schnelle Schiffe mit Segeln kaum überwinden! Das mit dem Floß kommt überhaupt nicht in Frage, alpha, weil du es nicht wirklich willst, beta, es sei denn, du schwörst mir heiligste Eide, dass du mich nicht hereinlegst und mich ins Verderben stößt."
Da flog ein Lächeln über ihr dunkles Gesicht. Mit ihrer Hand streichelte ihn Kalypso, die Göttliche, und sagte dann mahnend: "Du unterstellst immer gleich böse Absichten, du durchtriebener Kerl! Von dir kommt kein Wort ohne Berechnung. So seien also die Erde und der weite Himmel meine Zeugen; bei den unterirdischen Wassern der Styx schwöre ich - das gilt übrigens bei uns seligen Göttern als der tödlichste Schwur -, dass ich dich nicht hereinlege und ins Verderben stoße. Im Ernst: Ich käme doch nie auf den Gedanken, dir zu etwas zu raten, was ich, in vergleichbarer Lage, nicht selbst tun würde. Ich denke immer gerecht und positiv, schon aus Prinzip. Ich habe kein Herz aus Eisen in der Brust. Mitleid habe ich!"
Nach diesen Worten sprang die himmlisch hübsche Göttin davon, und er folgte ihr auf dem Fuße. Als Göttin und Mensch in der geräumigen Höhle angelangt waren, setzte er sich auf den Stuhl, auf dem zuvor Hermes gesessen hatte. Sogleich stellte ihm die Nymphe eine komplette Mahlzeit auf das Tischlein, allerdings nur Nahrungsmittel, die Sterbliche zu essen gewohnt sind, und nahm ihm gegenüber Platz. Ihr aber brachten Dienerinnen Ambrosia und Nektar. Und beide streckten sie die Hände aus nach dem, was für sie bereitet war.
Nachdem sie nach Herzenslust gegessen und getrunken hatten, sagte Kalypso, die himmlische Göttin: "Mann Gottes, Sohn des Laertes, gerissener Odysseus, bist du wirklich felsenfest entschlossen, heimzureisen ins liebe Land deiner Väter? Ja dann viel Spaß! Hättest du auch nur eine blasse Ahnung, was du alles durchmachen musst, bevor du deine Heimat erreichst, würdest du - da bin ich sicher - lieber hierbleiben und weiter als Mann im Haus fungieren. Ich könnte dir sogar Unsterblichkeit verschaffen! Und da sehnst du dich nach deiner Gattin, hast Tag für Tag nichts anderes im Kopf, als diese Frau wiederzusehen? Der ich übrigens in keiner Beziehung unterlegen bin, das darf ich ohne falsche Bescheidenheit behaupten, weder im Aussehen noch von der Figur her. Aber der Vergleich ist unfair, mit Göttinnen können sterbliche Frauen, was Schönheit und Körperbau betrifft, überhaupt nicht konkurrieren."
Der souveräne Odysseus gab zur Antwort: "Große Göttin, du wirst mir doch deshalb nicht böse sein? Ich weiß selbst am besten, dass die kluge Penelopeia weniger schön ist und im Vergleich zu dir eine eher bescheidene Figur hat. Sie ist ja auch sterblich; du nicht, du bist ewig jung. Ich sehne mich trotzdem Tag für Tag nach Hause, denn ich will die Stunde meiner Heimkehr noch erleben. Selbst wenn ein Gott mich wieder auf hoher See Schiffbruch erleiden lässt, werde ich mich nicht unterkriegen lassen. Ich habe schon so viel gelitten und durchgemacht, auf dem Meer und im Krieg, da kommt es darauf auch nicht mehr an."
Inzwischen war die Sonne untergegangen, und es wurde Nacht. Die beiden gingen also in den hintersten Winkel der geräumigen Grotte, genossen die Liebe und schliefen Seite an Seite ein.
Als aber in der Frühe die Göttin Eos das Morgenrot schickte, kleidete Odysseus sich unverzüglich in Rock und Mantel, während die Nymphe sich umständlich ein silberglänzendes, weites Gewand von erlesener Raffinesse aussuchte, um die Hüften einen Gürtel mit Goldverzierungen schlang und zur Krönung einen Schleier vor ihr Gesicht zog - um sich dann endlich doch der Abfahrt des tapferen Odysseus zu widmen. Sie reichte ihm eine mächtige Axt, die perfekt in der Hand lag; sie war aus Erz gefertigt, beidseitig scharf geschliffen, und saß gutbefestigt auf einem Stiel aus erstklassigem Ölbaumholz. Zusätzlich rüstete sie ihn mit einem geschärften Handbeil aus. Dann führte ihn die Göttin ans Ende der Insel, wo riesige Bäume wuchsen, Erlen, Pappeln, aber auch hoch in den Himmel ragende Tannen, die schon etwas trocken und dürr waren und gut schwimmen würden. Nachdem sie ihm die Stelle gezeigt hatte, ging Kalypso, die himmlisch hübsche Göttin, wieder nach Hause.
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