Nachdem sie das gesagt hatte, tauchte die Göttin in die Fluten und war verschwunden. Ich ging mit heftig klopfendem Herzen zu den Schiffen zurück. Wir bereiteten ein mageres Abendessen, denn die milde Nacht nahte schon, und schliefen bald ein, im Sand nahe der Brandung.
Und als in der Frühe strahlend Eos das Morgenrot schickte, ging ich am Strand des unermesslichen Meeres entlang und betete innig zu den Göttern. Mit mir gingen drei Gefährten, auf die ich mich in jeder Situation verlassen konnte. Inzwischen hatte die Göttin aus den Tiefen, in die sie getaucht war, die Felle von vier geschlachteten Robben heraufgebracht, alle ganz frisch abgezogen, um ihren Vater perfekt zu täuschen. Sie hatte bereits Kuhlen im Sand gegraben, saß dort und wartete auf uns. Wir legten uns der Reihe nach hinein, und sie breitete über jeden ein Fell. Aber die Tarnung stellte sich als unerträglich heraus. Der scharfe Gestank der Robbenfelle, dieser Kinder der Tiefsee, brachte einen schier um. Und wer möchte schon an Meeresmonstergestank sterben? Aber ein kluger Schachzug der Göttin brachte uns Rettung. Sie rieb einem jeden von uns Ambrosia unter die Nase, und das duftete so gut, dass die ekelhaften Ausdünstungen der Robben etwas gemildert wurden. Mit eiserner Willenskraft hielten wir durch, den ganzen verdammten Morgen. Endlich kamen die Robben aus dem Meer und legten sich in Scharen in den Sand nahe der Brandung.
Und mittags stieg der Alte vom Meere aus den Fluten, musterte die feisten Leiber der Robben und zählte sie, uns sogar als erste von allen Tieren. Er merkte nichts; er rechnete ja auch nicht mit Betrug. Dann legte er sich schlafen. Wir sprangen auf und stürzten uns mit Kampfgeschrei auf ihn. Sofort griff der Alte in seine Kiste tückischer Tricks. Zuerst verwandelte er sich in einen Löwen mit mächtiger Mähne, dann in eine Schlange; es folgten Panther, riesiges Wildschwein, flüssiges Wasser, zuletzt wurde er sogar zu einem hohen Baum mit allen Ästen daran. Aber wir hatten ihn eisern im Griff. Als er seiner Zauberei müde war, fing er endlich an zu reden und fragte mich: 'Sohn des Atreus, wer von den Göttern hat dich instruiert, dass du mich trotz meiner Gegenwehr austricksen konntest? Und was liegt an?' Aber ich hielt dagegen: 'Komm, Alter, du weißt sowieso Bescheid, was sollen die gewundenen Fragen? Ich sitze auf dieser Insel fest und komme nicht weg; langsam verlassen mich meine Kräfte. Die Götter wissen doch immer alles, deshalb erklär mir, wer von den Unsterblichen mich hier festhält und partout nicht einverstanden ist, dass ich über die fischreichen Gründe nach Hause segle.' Und er zögerte keinen Moment mit seiner Antwort: 'Klarer Fall, du hast Zeus und den anderen Göttern vor deiner Abfahrt die heiligen Opfer nicht dargebracht. Hol das nach, und du kannst auf schnellstem Weg heim übers Meer, das dunkel ist wie Wein. Aber du wirst weder deine Lieben noch dein schönes Schloss je wiedersehen, wenn du nicht an den Fluss Aigyptos, dessen Quelle im Himmel liegt, zurückfährst und dort den Unsterblichen ein großes Opfer ausrichtest. Erst dann wirst du, wie gewünscht, freie Bahn haben.' Mir brach schier das Herz, als er das sagte, denn es bedeutete, erneut die lange, gefährliche Reise übers Meer anzutreten in das Land, wo der Aigyptos fließt. Zerknirscht gab ich ihm zur Antwort: 'Ich werde alles tun, Alter, was du mir geraten hast. Aber nun sag mir bitte noch, offen und ohne Umschweife: Sind die anderen Achaier, die Nestor und ich bei unserer Abfahrt in Troja zurückließen, schon alle zu Hause angekommen, oder gab es Verluste? Hat das grausame Schicksal nochmals zugeschlagen nach durchstandenem Krieg? Auf See vielleicht oder schmählich von Seiten der lieben Verwandten in der Heimat?' Der ehrliche Alte antwortete auch diesmal. 'Sohn des Atreus', begann er, 'musst du mich das fragen? Es wäre besser für dich gewesen, nicht zu hören, was ich darüber weiß, denn du wirst bittere Tränen weinen. Es leben zwar noch viele, doch viele kamen auch um. Wer von deinen Mitstreitern im Krieg fiel, weißt du ja. Zwei weitere Achaierfürsten in Führungspositionen überlebten die Heimfahrt nicht. Ein dritter lebt noch, sitzt aber als Gefangener in fernen Meeresgegenden. Aias ging mit seinem Langruderschiff unter. Poseidon trieb ihn gegen die Felsklippen von Gyrai; er hatte sich zunächst schwimmend retten können, obwohl er Athene äußerst verhasst war. Doch dann war er so dumm, in seinem Übermut herauszubrüllen, er sei dem Meeresschlund aus eigener Kraft entkommen und die Götter könnten ihn mal. Poseidon, der Erderschütterer, hörte sich die unverschämten Prahlereien kurz an, packte dann mit seinen gewaltigen Fäusten den Dreizack und spaltete den Felsen von Gyrai in zwei Teile. Die eine Hälfte blieb stehen, die andere stürzte ins Meer. Und genau auf dieser saß der vorlaute Angeber Aias. Samt Felsenbrocken riss ihn Poseidon hinunter in die wildschäumenden Fluten, und das Großmaul schluckte Salzwasser, bis er randvoll war. So weit Aias. Dann dein Bruder: Er entkam dem Tod auf seinen großen Schiffen, er stand ja unter dem Schutz der mächtigen Hera. Aber als er sich den steilen Felswänden von Maleia näherte, packte ihn ein Sturm und trieb ihn weit hinaus auf das von Fischen wimmelnde Meer, extrem weit hinaus zu seinem Leidwesen; bis dahin, wo früher der alte Thyestes hauste und Aigisthos zu Hause war, der Sohn des Thyestes. Aber irgendwann ging es weiter, die Götter ließen die Winde in die Gegenrichtung wehen, und er kam mit seinen Gefährten nach Hause. Das Herz voller Freude, betrat er den Boden der Heimat, kniete nieder und küsste ihn. Er weinte, so glücklich war er, sein Land wiederzusehen. Doch entdeckte ihn ein Beobachtungsposten, den der hinterlistige Aigisthos aufgestellt und dem er für den Erfolgsfall zwei Talente Gold versprochen hatte. Ein ganzes Jahr schon hatte der Mann auf der Lauer gelegen, um zu verhindern, dass dein Bruder überraschend heimkehren und den Kampf aufnehmen könnte. Sofort lief er ins Haus des Fürsten und meldete die Ankunft. Und Aigisthos reagierte sofort mit einem hinterhältigen Plan, wie er nur ihm einfallen konnte. Er wählte einerseits zwanzig seiner besten Männer aus, die sich verstecken mussten, andererseits ließ er ein Festmahl vorbereiten. Finsteres im Sinn, fuhr er mit einem Gespann hinaus, um Agamemnon, der an alles Mögliche, aber nicht an den Tod dachte, zu dem Festessen einzuladen. Er führte ihn in den Saal und erschlug ihn an seinem eigenen Tisch, einfach so, wie man ein Rind an seiner Krippe, wo es ruhig bleibt, erschlägt. Keiner der Gefährten des Atriden überlebte das nun folgende Gemetzel, aber auch keiner von Aigisthos' Leuten, alle lagen erschlagen im Saal.'
Hier endete Proteus; und diesmal brach mein Herz wirklich. Ich saß weinend im Sand und wollte das Licht der Sonne nicht länger sehen, so lebensmüde war ich. Als ich mich ausgeweint und mich lange genug, am Boden zerstört, auf diesem gewälzt hatte, begann der Alte vom Meere, der Bote der Wahrheit, wieder zu sprechen: 'Nicht mehr weinen, Menelaos, hör auf, nun reicht es. Gejammer ist kein Ausweg. Du solltest lieber versuchen, so schnell wie möglich heimzukommen. Entweder du triffst den Mörder dort noch lebend an, oder Orestes hat ihn schon umgebracht. In diesem Fall kannst du immerhin noch seiner Bestattung beiwohnen.' Seine klaren Worte rissen mich aus meiner desolaten Stimmung, und mein Herz, so kummerschwer es war, schlug wieder munterer. Ich riss mich zusammen und sagte: 'Gut, nun weiß ich, was zweien passiert ist. Und wer ist der dritte, der draußen im weiten Meer verschollen ist? Auch wenn es wieder wehtun sollte, ich will es wissen.' Und er beantwortete meine Frage prompt: 'Das ist der Held aus Ithaka, der Sohn des Laertes. Ich sah, wie seine Tränen munter perlten, dort auf einer fernen Insel, im Schlafzimmer der fesselnden Nymphe Kalypso, die ihn mit Macht und all ihren Reizen dazu bringen will, bei ihr wohnen zu bleiben. Er kann auch gar nicht weg, da er weder Schiffe noch Gefährten hat, die ihn über das weite Meer in sein Land bringen könnten. Und nun zu dir, Menelaos, Liebling der Götter! Dir haben die Götter bestimmt, nicht in Argos, wo die Pferde gedeihen, zu sterben. Nach dem Willen der Götter wird sich dein Schicksal in den Gefilden am Ende der Welt erfüllen, wo die Ebenen Elysions liegen. Dort, beim Richter der Toten, dem blonden Rhadamanthys, wo die Menschen leicht und sorglos durch das Leben gehen; wo weder Regen und Schnee fällt, noch Stürme je wüten. Und wo Zephyros allzeit ein klein wenig Wind wehen lässt vom Okeanos her, um die Menschen zu erfrischen. Da wirst du sterben.' Nach diesen Worten tauchte er weg in die schäumende Meeresbrandung.
Читать дальше