Nat stellte sich Tally gegenüber und wartete auf erste Anweisungen. Stattdessen machte sie jedoch einen schnellen Schritt nach vorne und ehe Nat sich versah, hatte sie ihm das Schwert aus der Hand geschlagen. Ihre Holzwaffe zuckte blitzschnell vor und zurück und er erhielt schmerzhafte Treffer an den Schultern und den Oberschenkeln.
Plötzlich wurde Tallys Hand mit eisernem Griff gepackt und Odu zischte ihr ins Ohr.
„Genug! In Stücke schlagen kannst du ihn, wenn du beweisen kannst, dass er uns Böses will. Bis dahin bemühst du dich gefälligst ihm zu helfen!“
Tally riss sich los und wollte etwas entgegnen, als Odu noch einmal nachlegte.
„Wenn man dir keine Chance gegeben hätte, würdest du jetzt auch nicht hier stehen und die stolze Captrecce mimen.“
Tally funkelte Odu an, nackte Wut lag in ihrem Blick. Dann senkte sie den Blick, schob die Spitze ihres Schwerts unter Nats Holzwaffe und warf sie ihm mit einer kurzen Handbewegung zu.
Nat fing das Schwert, nahm es fest in die Hand und bemühte sich, die Schmerzen zu ignorieren.
Wieder stellte er sich fest vor Tally auf. Er drehte dabei die rechte Schulter leicht nach vorne und nahm eine Fechterstellung ein.
„Schon falsch.“ Tally schüttelte den Kopf. „Was du da in der Hand hast ist kein Degen. Es handelt sich um ein Schwert, dieses noch aus Holz. Ein gutes geschmiedetes Schwert wiegt an die fünfzig Unzen. Wenn Du es nur am langen Arm führen und ein bisschen herumfuchteln willst, wird dir der Arm ganz schnell schwer. Und jeder durchschnittliche Kämpfer schlägt dir das Schwert aus der Hand.“
Dozierend marschierte Tally um Nat herum. Um die beiden bildete sich ein Kreis von Männern, die sich etwas Abwechslung vom langweiligen Warten versprachen.
Plötzlich krachte es hoch oben am Hauptmast. Nats Blick schoss nach oben. Der Ausguck duckte sich verschreckt hinter die Einfassung seiner Plattform.
Neben Nat stand Odu, der langsam seine Schleuder wieder einsteckte.
„DU SOLLST AUFS WASSER GUCKEN! NICHTS ANDERES!!!“
Kopfschüttelnd lehnte er sich gegen die Reling.
Tally hatte sich von dem kurzen Vorfall nicht aus der Rolle bringen lassen.
„Um ein Schwert oder einen Säbel zu führen brauchst du den ganzen Körper. Du musst den Körper hinter das Schwert bringen, um die Wucht von Angriffen abzufangen. Du musst den Körper vor oder neben das Schwert bringen, um eigene kräftige Angriffe auszuführen.
Das ist kein Herumfuchteln wie das Schwirren von Feennymphen, dass ist das Kämpfen wie das Stampfen eines Pferdes. Schnell UND kraftvoll.“
Tally baute sich vor Nat auf.
„Und außerdem hat es nichts mit Freude und Spaß zu tun, wie bei einem kleinen Wettkampf unter Freunden. Ein Wettkampf mit festen Regeln und fairen Verlierern.
Wer das Schwert gegen einen Gegner schwingt, der will töten und vernichten. Der will Glieder abschlagen und tiefe Wunden zufügen. Also, keine Gnade.“
Bei diesen Worten hatte Tally sich halb dem Hauptdeck zugewandt, als wolle sie ihre Worte auch an die anderen Matrosen und Seefrauen richten.
Im selben Moment wirbelte sie herum und schlug kraftvoll zu.
Doch an der Stelle, an der sie Nats Oberarm treffen wollte, schwang ihr sein Holzschwert entgegen und ein harter Schlag, den sie nicht erwartet hatte, ließ ihren Oberkörper erzittern.
„Keine Gnade heißt somit auch, Tricks anzuwenden, um einen Vorteil zu erzielen.“ Mit einem schnellen Schritt wich Nat zurück um einer Reaktion zu entgehen.
Für einen Moment blitzte so etwas wie Achtung in Tally’s Augen auf. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle und nahm Aufstellung.
Sie stand Nat frontal gegenüber, das Schwert hielt sie mittig vor dem Körper. So konnte sie Angriffe mit kurzen Bewegungen abfangen, aber auch eigene Angriffe als Hiebe oder Stiche ausführen.
Einige Herzschläge lang beobachtete sie ihren Gegenüber, dann führte sie einen langsamen, leicht zu parierenden Schlag aus.
„Wir werden zunächst mit einem niedrigen Tempo anfangen, damit wir einige Schlagkombinationen und die Reaktionen darauf üben können. Mit der Zeit werden wir dieses Tempo steigern.“
Die ersten Schläge stellten für Nat kein Problem dar. Er war zwar von den Tagen im Wasser noch immer geschwächt und ein geübter Kämpfer war er auch nicht. Aber das würde sich mit der Zeit schon noch entwickeln.
Ganz langsam erhöhte Tally das Tempo und so kämpften sie eine längere Zeit. Immer wieder gelang es Tally seine Verteidigung zu umgehen oder auszuhebeln, so dass Nat so manchen schmerzhaften Schlag erhielt.
Nur das harte Training mit Jargo und die vielen Stunden in den Wanten der Katalanya gaben ihm die Kraft, das Übungsgefecht solange durchzuhalten.
Inzwischen zeigten sich sogar auf Tallys Stirn erste Schweißtropfen, aber sie schlug unermüdlich auf Nat ein.
Sie hätte es nie zugegeben, aber sein Talent und seine körperlichen Fähigkeiten und vor allen Dingen seine Leidensfähigkeit überraschten sie.
Außerdem zeigte er eine hohe Lernbereitschaft und sog die Belehrungen und Hinweise auf wie ein Schwamm.
Nach nur wenigen Stunden kämpfte er bereits besser als viele der anderen Kämpfer hier an Bord, die über mehr Erfahrung verfügten.
Es würde noch viel Zeit und viel Training in Anspruch nehmen, bis er in der Lage sein würde, länger als nur ein paar Augenblicke gegen Tally zu bestehen, aber er war auf einem guten Weg.
Widerwillig musste sie zugeben, dass ihr das Training Spaß machte und dass in ihr ein leiser Ehrgeiz erwachte, ihn zu einem guten Kämpfer zu machen.
Sie würde auch Odu den Auftrag geben, mit Nat zu kämpfen, damit er andere Schlagtechniken, aber vor allem einen anderen Kampfstil kennen lernte.
Also gut, es war genug für heute.
Mit einigen schnellen Schlägen trieb sie Nat zurück, dann führte sie einen blitzschnellen Schlag gegen seine Schwerthand. Im nächsten Moment flog seine Holzwaffe in hohem Bogen davon und schlug klappernd auf das Deck.
„In Ordnung, das reicht für heute.“ Ihr Gesicht nahm einen bemüht grimmigen Ausdruck an. „Ich habe mich genug gelangweilt für heute, mir können morgen weitermachen.“
Sie reichte Odu ihr Holzschwert und trat an die Reling, um in den Nebel zu starren, zu der Stelle, wo vor einigen Stunden das Ruderboot verschwunden war.
Hinter sich hörte sie das Rascheln von Stoff. Als sie sich umdrehte sah sie das Hemd von Nat, das am Boden lag. Dann entdeckte sie ihn, als er von der Treppe auf das Hauptdeck sprang, und mit schnellen Schritten zur überhöhten Reling schritt. Er griff sich ein langes Seil, das zum Aufziehen der Segel diente. Da die „Bucaneer“ jetzt vor Anker lag, waren die Segel gerefft und das Seil lag aufgerollt an Deck.
Mit sicheren Bewegungen schlang Nat sich das Tau um die Hüften, dann kletterte er geschickt auf die Umrandung, ließ das Seil über die Reling rutschen. Da es an der Rahstange befestigt war, fiel es in einem langen Bogen ins Wasser. Mit einem kühnen Kopfsprung sprang Nat ins ruhige Wasser.
Einige der Piraten schüttelten verwundert die Köpfe. Obwohl sie Seeleute waren, konnten viele der Männer und Frauen hier an Bord nicht schwimmen.
Das war eigentlich auch im Sinne der Kapitäne, denn Nichtschwimmer verteidigten ihr Schiff länger und verbissener.
Zudem musste Nat schließlich auch damit rechnen, dass die Leviathane das Schiff weiterhin umkreisten. Einen Körper, der aufklatschend ins Wasser schlug, den würden sie aus enormen Entfernungen bemerken.
Aber Nat schien sich dieser Gefahr nicht bewusst. Mit langen ruhigen Zügen schwamm er ein kurzes Stück vom Schiff weg, dann tauchte er mit einem letzten Beinschlag unter die Oberfläche.
In dem klaren Wasser war deutlich zu sehen, wie er mit kräftigen Zügen immer tiefer tauchte.
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