„Jargo. Er war mein Freund.“
Den schnellen Blick, den Odu und Tally sich zuwarfen, bemerkte Nat nicht. Er redete weiter.
„Zuletzt hatten die Piraten das Schiff in ihrer Gewalt und nur Jargo, der Kapitän und einige Wenige waren noch am Leben. Dann kam von dem Piratenschiff ein sehr großer, Mann, offensichtlich der Kapitän.“
„Blackard!“ Tallys Stimme war nur ein Flüstern.
„Ja, das war der Name. Die Piraten brüllten ihn, als er zu ihnen gesprochen hat. Er tötete die Überlebenden, auch Jargo.“ Ein Schluchzen ließ Nat erzittern, dann holte er tief Luft.
„Sie plünderten die Katalanya und sprengten das Schiff in die Luft, genau wie ... ihr!“
Trotzig blickte Nat der Captrecce ins Gesicht.
Ungerührt sah sie ihn an, hatte sich wieder unter Kontrolle.
„Ihr wisst gar nichts, deshalb könnt ihr auch nicht urteilen.“
Nat registrierte, dass sie ihn nicht mehr duzte und vor allen nicht als „Treibgut“ bezeichnete. Vielleicht ein gutes Zeichen.
Tally gab Odu ein kurzes Zeichen. Er fasste Nat an den Schultern und zog ihn zu einem Stuhl, der an der Stirnseite des Tisches stand.
Tally stand auf und trat an das niedrige Fenster, um aufs Meer zu blicken.
„Jetzt haben wir eine Geschichte gehört, wo du herkommst und wie du ins Wasser gefallen bist, Treibgut!“
Na, da hatte Nat sich wohl zu früh gefreut.
„Aber mir fehlt immer noch die Erklärung, warum du aus der Alten Welt hier herüber gekommen bist!?!“
Nat zuckte die Schultern.
„Ich weiß es auch nicht. Jargo hat mir viel erzählt über die Ferne Insel …“
„Iskandrien.“
„Was?“ Nat runzelte die Stirn.
„Wir, die wir hier geboren wurden nennen unsere Insel Inskandrien. Für uns ist sie nicht fern.“
„Also, Iskandrien. Jargo hat mir viel darüber erzählt, von den Geschichten, die er gehört hatte. Und er berichtete mir von großen Problemen, einer gefährlichen Verschlechterung der Stimmung zwischen den Rassen und dass seit einiger Zeit keine Nachrichten mehr in Sylthana ankamen. Was ich damit zu tun habe und wo mein Platz in dieser Geschichte ist, konnte er mir nicht sagen.“
Nat rutschte auf dem Stuhl hin und her. Jetzt wurde es zumindest … schwierig … die weiteren Hintergründe zu erklären.
„Kennt ihr das Orakel von Asyan?“ Langsam verlor sich Nat`s Stimme. Wie sollte er das erklären?
„Was ist mit dem Orakel?“ Wieder mischte Odu sich in das Gespräch ein. Es war kein Zweifel, keine Häme in seiner Stimme. Vielmehr schien er überrascht und interessiert an dem was Nat über das Orakel zu sagen hatte. Gleichzeitig klangen Verbitterung und heiße Wut mit.
„Das Orakel hat ohne Aufforderung zu Jargo gesprochen.“
Odu stieß einen kurzen Laut aus. „Das hat es noch nie gegeben. Das Orakel spricht nicht von sich aus. Es antwortet nur auf Fragen.“
„Wenn ihr das wisst, dann könnt ihr ja die Überraschung der Magier verstehen, als das Orakel vermeldete, dass es einen Mann geben soll, der zur Fernen I..., äääh … ich meine, nach Iskandrien gebracht werden soll.“
„Und dieser Mann seid ihr!?!“ Das ernste Gesicht strafte Tallys spöttischen Ton Lügen. Außerdem war er für den Moment mal wieder kein Treibgut.
„Anscheinend. Jargo sagte, er hätte etwas in mir gesehen, was den Worten des Orakels entspricht.“
„Zum Beispiel eure Fähigkeit eure Wunden heilen zu lassen. Oder die Schnelligkeit, mit der ihr Alda vor dem schlagenden Tau gerettet habt.“
„Ja. Wahrscheinlich. Vielleicht. Ich … ich weiß es nicht. Jargo`s Auftrag bestand nur darin mich nach Iskandrien zu bringen. Alles andere ist mir völlig unklar.“
Odu und Tally sahen sich lange an. Niemand sagte ein Wort.
Dann seufzte Tally und blickte zu Nat.
„In Ordnung, Treibgut. Vielleicht ist meine Nase nicht mehr so gut. Auf jeden Fall ist der Gestank im Moment nicht so schlimm. Du kommst erst mal mit uns. Über Bord werfen können wir dich immer noch. Oder vergraben.“
Mit einem Schultertippen forderte Odu Nat auf, sich zu erheben und mit ihm die Kabine zu verlassen.
Nat spürte Tally`s Blick im Rücken, aber er zwang sich raus zu gehen, ohne sich noch einmal nach der schönen Frau umzusehen.
Es gab auch zu vieles, über das er nachdenken musste.
Warum wusste Odu diese Dinge über das Orakel? Welche Verbindungen bestanden zwischen Blackard und Tally? War Blackard die große Gefahr für die Ferne Insel Iskandrien oder gab es da noch mehr?
„ Der Trupp steht bereit, Herr . Wir haben Elfenkleidung gewoben und Elfenpfeile geschnitzt. Keiner der Männer hat etwas bei sich, was auf seine wirkliche Herkunft schließen lässt. Und wir werden keine Überlebenden zurücklassen, die uns aus nächster Nähe gesehen haben. Genau wie ihr gesagt habt.“
Der grün gekleidete Mann kniete auf dem verdreckten Teppich, seine Nase berührte fast den fadenscheinigen Stoff. Krampfhaft versuchte er durch den Mund zu atmen, um den durchdringenden Gestank nicht aufnehmen zu müssen.
Rrordrak saß quer auf dem Thron, seine Beine baumelten über die Armlehne. Er hätte selber nicht sagen können, warum er so entspannt war. Alles schien zu laufen wie geplant. Und die Gefahr aus der Alten Welt war abgewendet. Die Kopfschmerzen hatten ihn nur noch einmal kurz gequält.
Jetzt stand der nächste Schachzug in seinem Kampf um die alleinige Macht auf Iskandrien bevor.
In Vorstamm, einer kleinen Menschenstadt in der Nähe der Grenze nach Endoria stand ein uralter Baum, der für die Elfen ein Heiligtum bedeutete.
Nach ihren Sagen hatten sich unter diesem Baum Odeon, der Gott der Wälder und der Bäume und Enphygie, die Göttin des Wassers getroffen und sich ineinander verliebt.
Welfern, der Gott des Wetters, der Donner und der Blitze hatte ein Auge auf Enphygie geworfen.
Da sie seinem Werben nicht nachgeben wollte – sie hielt den ernsten, verbissenen Gott für einen echten Langweiler - verfolgte Welfern sie auf Schritt und Tritt.
Enphygie hatte sich in einen Fluss verwandelt und sich in der Ebene Thorlands in einem ausgetrockneten Flussbett versteckt.
Daraufhin hatte Welfern das Land mit einem Trommelfeuer aus Blitzen überzogen, um die Widerspenstige aus ihrem Versteck zu treiben.
In ihrer Not hatte Enphygie sich unter einem nahen Baum versteckt, der unter den Einschlägen der Blitze erzitterte.
Enphygie hatte sich in Myriaden von Tautropfen verwandelt, die auf den Blättern und am Stamm des Baumes glitzerten, als Odeon erschien und seine starke, rissige Hand auf den Stamm des Baumes legte und ihm Stärke und Trutz vor den Blitzen des wütenden Wettergottes gab.
Sofort hatte er die Anwesenheit eines weiteren Wesens erspürt und so hatte Enphygie sich ihm in ihrer durchscheinenden, klaren Schönheit präsentiert.
Der Gott der Wälder war fasziniert von diesem sphärischen Geschöpf, sie hatte sich sofort in seine Stärke und Standhaftigkeit verliebt.
Und so vereinigten sie ihre Liebe unter diesem Baum.
Dass er nicht in Endoria stand, war ein ewiges Unglück für die Elfen, aber sie akzeptierten die Grenzen. So hatten der Baum und die Stadt Vorstamm sich zu einem Wallfahrtsort für Generationen von Elfen entwickelt.
Einige schwierige Jahre, erfolgten die Besuche eher heimlich und nur unter der missbilligenden Duldung der menschlichen Bewohner Vorstamms. Doch inzwischen glichen die regelmäßigen Besuche der Elfen kleinen Volksfesten und trugen viel zur Verständigung der Rassen bei.
Dies war ein Grund mehr dafür, dass Rrordrak gegen diese Harmonie vorging.
In den Reihen der Elfen gab es einige wenige Unbelehrbare, die der Meinung waren, Vorstamm und sein Teil an der elfischen Sagenwelt müsste, wenn nötig mit Gewalt, in das Reich Endoria eingegliedert werden.
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