Nach Normen oder überhaupt nach Kennziffern zu arbeiten, war in dieser Zeit nicht möglich. Häufig verdoppelten sich die geplanten Zeiten, in schlimmeren Fällen verdreifachten sie sich. Außerdem litt der gesamte Maschinenpark unter hohem Verschleiß. Obgleich der Oberbauleitung besondere Bedingungen eingeräumt worden waren, zum Beispiel bei dem Einsatz der örtlichen Transportmittel - es handelte sich um ein Schwerpunktobjekt -, besserte sich die Lage vorderhand nicht. So gab es bei fast allen Tiefbauarbeiten schon erhebliche Zeitverluste, die kaum aufgeholt werden konnten. Es lag nicht so sehr an menschlichem Versagen als an den Schwierigkeiten, die nicht zu beherrschen waren. Bis jetzt erschien die Baustelle als ein Chaos, das kein menschlicher Wille in eine bestimmte Ordnung auflösen konnte.
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Im Zentrum dieses scheinbaren Durcheinanders stand eine lange, wetterfeste Baracke, um die sich andere Baulichkeiten, mehr oder minder provisorisch errichtet, gruppierten. Eine große, an den Giebelseiten offene Halle, mit Platten gedeckt, diente als vorläufiger Abstellraum für die Maschinen. Fertigzellen, kastenartig ineinandergeschachtelt, Zelte und primitive Verschläge aus Holz beherbergten Abteilungen, Werkstätten und Lager, die nicht in einer der festen Baulichkeiten untergekommen waren.
Die Baracke stand auf einem Betonfundament. Ein langer Mittelgang, von dem links und rechts die Zimmer abgingen, führte durch sie hindurch. Auch eine Warmwasserheizung war montiert, die bis zum Herbst an das Verteilernetz eines kleinen, für den Übergang von einigen Jahren gedachten Heizwerkes angeschlossen werden sollte. Wenigstens gab es schon elektrischen Strom und Telefon, ohne Fernsprechverbindung hätte sich dieser Organismus auch nicht mehr in Gang halten lassen.
Die Zimmer waren einfach geweißt, sie hatten Latexanstriche, die Böden waren mit Kunststoffbahnen belegt oder beklebt, und alles in allem erweckte die Baracke den Eindruck, als sei das Provisorium für eine lange Zeit vorgesehen. Sonst enthielt die Baracke einfach alles, was schnell erreichbar sein mußte, die Telefonzentrale, alle wichtigen Leitungsbereiche, eine Küche, Toiletten, Waschräume. Gleich vorn neben der Telefonzentrale und den Waschräumen lag das Küchenzimmer mit einem Heißwasserspeicher, einer Anrichte, Kühlschrank und Abwaschtisch. Tagsüber stapelte sich hier schmutziges Geschirr, Tassen, Teller und Kännchen. Sekretärinnen wanderten über den langen Mittelgang, um Chefs und Gäste, deren es täglich einige Dutzend gab, mit Kaffee zu versorgen.
Auf der anderen Seite des Mittelganges mußten sich die Abteilungen Kader und Sicherheit ein winziges Zimmer teilen. Allerdings stand noch ein weiterer Raum für die Personalkartei zur Verfügung. Weiter lag hier neben diesen beiden Räumen die Wirtschaftsabteilung. Damit war das erste Viertel der Baracke ausgefüllt, auf engstem Raum arbeiteten acht bis zehn Menschen, die freilich selten in ihren Zimmern anzutreffen waren. Alle Räume wurden abends versiegelt.
Im zweiten Viertel lagen Planung, Investition, Ökonomie und gegenüberliegend Technik mit der Zeichenabteilung. Das vorletzte Viertel der Baracke war den Bauleitern mit der Oberbauleitung vorbehalten, während das letzte Viertel die gesellschaftlichen Leitungen aufnahm, Parteileitung, Gewerkschaftsleitung und FDJ-Leitung.
Koblenz verfügte über ein Sekretariat und ein Doppelzimmer, dort standen ein Sitzungstisch mit acht Stühlen, sein Schreibtisch, Telefone, eines mit Direktleitung nach Berlin und eine Wechselsprechanlage. Auf einem kleinen Tisch stand noch ein Aufzeichnungsgerät, Koblenz pflegte seine Anweisungen und Berichte abends oder nachts auf den Datenspeicher zu sprechen. Frühmorgens übertrug seine Sekretärin Gesprochenes in Geschriebenes und brachte alles, wenn nötig, in die Vervielfältigung. Hinter dem Schreibtisch, die Wand überspannend, hingen ein Generalplan und eine Magnettafel.
Ruhe gab es in dieser Baracke nie. Ab sieben Uhr rasselten die Telefone, hackten Schreibmaschinen, wurde über den Mittelgang geschrien. Ständig mußte irgendwer gesucht werden, und ebenso regelmäßig wurde der Betreffende nicht gefunden, oder er kam erst, wenn die Verbindung längst zusammengebrochen war. Vor der Baracke reihten sich die Autos auf. Jeder, der kam, stellte seinen Wagen mit der größten Selbstverständlichkeit vor der Zentrale ab. Namentlich morgens, gegen sieben Uhr, wenn Koblenz seine Stabsbesprechung abhielt, zu denen alle Leiter erscheinen mußten, drängten sich die Wagen vor dem niedrigen Haus.
Diese Besprechungen vereinigten wenigstens einmal täglich alle wichtigen Leute, jeder gab einen Kurzbericht über die Situation in seinem Teilbereich. Es wurden die nächsten Maßnahmen getroffen. Gewöhnlich entschied Koblenz alles selbst, oder er delegierte jemand aus dem Stab, bestimmte Vorhaben anzukurbeln und bis zum Ende zu verfolgen. Der Oberbauleiter hatte die Lage der einzelnen Teilobjekte gut im Kopf, er hätte die Symbole auf der Karte wohl nicht nötig gehabt.
Jeder Tag verlief so oder so ähnlich. Die Situation früh verglich Koblenz gern mit dem Punkt Null, dann begann er die Figuren zu rücken, bis der ganze Bauplatz durch ihn gleichsam in Bewegung versetzt worden war. An vielen Objekten wurde in dieser Phase durchgehend gearbeitet, Koblenz oder einer seiner Stellvertreter fungierten dann als Chef vom Dienst, denn auch während der Nacht riß das Kommen und Gehen selten ab. Mit Spannung wurde die folgende Frühsitzung erwartet, wo Koblenz wiederum den Punkt Null herstellte.
Er arbeitete nach einem Schema, nach einem Modell, besser gesagt, vielleicht war er der Einzige, der wirklich ständig Überblick besaß. Indessen hatte dieser von ihm organisierte Informationsfluß von unten nach oben auch Nachteile. Koblenz bezog alles auf seine Person, keine Arbeit, die er nicht zu kontrollieren wünschte, kein Teilplan, den nicht er selbst entworfen, den er nicht dirigierte, kontrollierte. Wie ein Schachspieler oder Feldherr genoß er die Vorzüge seiner Stellung, seines Ranges, und zweifellos - bezog er ein gut Teil seiner Entscheidungsfreude aus dieser Position, er hatte Spaß an der Sache. Die anderen mußten seine Ideen, seine Pläne und Vorhaben ausgestalten. Es kam häufig vor, daß sie ihn schlecht verstanden oder eigene Ideen in die Pläne Koblenz hineinmogelten. In dieser Periode brachte fast jeder Tag solche Teilaufgaben und war es auch nur die Frage, wo was künftig zu lagern sei.
Was Koblenz vorwärts trieb, das Bewußtsein, Herr über alles zu sein, dämpfte den Eifer der anderen. Der Alte machte es ja doch anders, als sie vorschlugen, dem war ja nie etwas recht zu machen, der dachte für sie alle, der entschied für sie alle.
Es war längst nicht mehr Kisko allein, der von Koblenz schief angesehen wurde. Mit den stürmischen Veränderungen auf der Großbaustelle zogen täglich neue Leute ein, stellten sich vor, wurden von Koblenz freundlich empfangen und eingewiesen. Mit einem Paket Unterlagen, ihrer Teilaufgabe entsprechend, zogen sie sich zurück, erschienen zum Rapport mit fix und fertigen Gedanken, aber Koblenz hatte meist seine eigenen Vorstellungen über die jeweilige Sache. Regelmäßig verwarf er, was ihm unterbreitet wurde, gab mit seiner scharfen Stimme neue Anweisungen. Wer sich nicht fügte, der wurde im Handumdrehen seine Arbeit wieder los. Immer lag Konzeptpapier auf dem Schreibtisch des Oberbauleiters, immer war er bereit, mit raschen Strichen aufs Papier zu werfen, was andere in Szene setzen mußten.
Alters und mehr noch Gablenz kannten diesen Stil des Oberbauleiters. Ihre Stellung als seine Stellvertreter verdankten sie ihrer Ideenlosigkeit. Anpassungsfähig, waren sie der verlängerte Arm des Oberbauleiters, erledigten sie prompt und termingerecht, was er wünschte und wie er es wünschte.
Im Leitungsstab kam es dennoch selten zu Reibereien, sie lagen zwar in der Luft, aber diese Periode erlaubte nicht, Feindschaften zu entwickeln, wechselte doch täglich die Szene, und mit Lob war Koblenz nicht sparsam, jedoch auch mit Tadel nicht. Er selbst durfte von keinem kritisiert werden. Ging etwas schief, so war die Verantwortlichkeit sicher schon vorher von Koblenz von sich auf einen anderen verlagert worden. So stand er immer gut da, niemand konnte ihm etwas am Zeug flicken. In ihren Zimmern unter vier oder sechs Augen redeten die Leiter offener, bezeichneten den Chef als Verrückten, als hinterhältigen Intriganten, hüteten sich aber, ihm in den Arm zu fallen. Die Stimmung war nicht besonders gut nach einigen Wochen Arbeit; sie war auch deshalb nicht gut, weil sich trotz großer Anstrengungen keine Plantreue herstellen ließ.
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