Nu reicht es.
Mir auch, Vater, hören wir auf.
Der Bauarbeiter Bernhard Gallas fährt ab vierundfünfzig täglich mit dem Rad bis zur Kreisstadt. Dort beginnt die Vorortbahn, er fährt zu Willich. Er verdient viel, sehr viel, wechselt den Anteil Westmark seines Lohnes in einer Wechselstube in Ostmark um, er kauft Sachen, kauft ein Motorrad, kauft ein Auto, gebraucht, ein Vorkriegsmodell, Adler Junior, denkt noch nicht daran, ein eigenes Haus zu bauen, denkt noch nicht ans Heiraten, wechselt oft die Freundin. Das Leben ist so bequem, er wohnt zu Hause. Mit den Brüdern trifft er sich kaum noch. Dann überrascht ihn der 13. August, ein Sonntag, an dem er spät aufsteht, im Garten herumläuft, frühstückt, schließlich das Radio anstellt. Die Grenzen sind geschlossen. Der junge Gallas packt seinen Rucksack: Ich werde schon noch durchkommen.
Der alte Gallas, schwer in Sorge: Die Hunde schießen, mein Junge, paß auf dich auf, komm lieber zurück, falls alles dicht ist. Schreib sofort, wenn es geklappt hat, vielleicht sehen wir uns nicht mehr wieder. Was für ein Leben!
Auf dem Bahnhof der Vorortbahn stehen Soldaten und Kampfgruppenleute.
Sie da, kommen Sie mal näher. Ihren Ausweis.
Was ist denn los?
Stellen Sie sich nicht dumm, Sie wissen doch Bescheid. Wohin wollen Sie fahren?
Das geht Sie einen feuchten Dreck an. In Richtung Stadt geht kein Zug für Sie.
Ich will einen Besuch machen. Wo gibt es denn so was, die Leute festhalten.
Wir halten Sie nicht fest, wir schicken Sie zurück, Herr Gallas. Wir schützen das Leben der Bürger, das ist eine Vorsorgemaßnahme.
Gallas dreht wortlos um, er versucht es an diesem Tage noch zweimal, mit der Vorortbahn wegzukommen, es mißlingt. Am Abend besucht ihn der Einarmige, redet ihm zu. Beide verschweigen, daß sie sich auf dem Bahnhof auf verschiedenen Seiten gesehen haben. Es ist ihre letzte Begegnung überhaupt.
Der alte Gallas stirbt eine Woche später. Von seinen Söhnen kommen nur zwei zur Beerdigung. Der Einarmige fehlt.
Bernhard wird als ehemaliger Grenzgänger zwangsvermittelt, er arbeitet als Betriebshandwerker in einem großen Industriebetrieb, nicht mehr «Schwarzkopff», sondern «Heinrich Rau», fühlbar weniger Geld verdient er, ist einsam und isoliert. Niemand möchte sich öffentlich mit ihm zeigen. Und die sich mit ihm zeigen wollen, weist er zurück. Er zieht Zwischenwände, macht Reparaturen, und es fällt auf, daß der Maurer Bernhard Gallas eine Arbeit zu liefern versteht, die sich sehen lassen kann. Seine neuen Kollegen: Gallas, wir sind 'ne Komplexbrigade, das heißt, wir ... Gallas: Drüben hättet ihr nicht mal als Hucker gehen können. Drüben? Det kannste vergessen.
1962 fährt Gallas nach Zinnowitz in Urlaub. Der sehnige starke Kerl liegt in seinem Strandkorb, neben dem sich zwei Mädchen in einer Sandburg aalen. Mit dem einen kommt Gallas ins Gespräch. Es ergibt sich eine Gemeinsamkeit, sie ist Sachbearbeiterin in einem Industriebaubetrieb in Karl-Marx-Stadt. Gallas hat was gegen die Sachsen. Das Mädchen: Ich bin aus Luckenwalde. Frag mich nicht, wie ich dahin gekommen bin. Aber die Arbeit ist nicht schlecht. Wo steckst du denn?
Gallas erzählt ihr seine Geschichte und Rita spöttisch: Das ist ja kolossal, aber in der Bude kommst du auf keinen grünen Zweig.
Rita ist achtundzwanzig, ein Jahr jünger als er, groß, schlank; sie macht einen starken Eindruck auf ihn.
Bist du allein hier?
Ich erhole mich gerade von meiner Scheidung. Das Übrige vollzieht sich rasch, er bewirbt sich bei ihrem Betrieb, er wird genommen, er wechselt über nach Karl-Marx-Stadt und heiratet. Zwei Kinder. - Gallas hat das Gefühl, die Zeit laufe jetzt schneller. Die Kinder wachsen heran, Rita bleibt für Gallas das Zentrum seines Lebens, ihr vertraut er sich rückhaltlos an.
Rita: Eigentlich haben wir beide eine Masse Glück gehabt, wenn ich mich so umsehe, bei der einen stimmt es da, bei der anderen hier nicht.
Gallas, unter einem Ansturm von Liebe, Furcht, Rita zu verlieren: Mädel, wenn du irgendeinen Mist baust, ich mach dich fertig, daß du in keine Hose paßt.
Das ist der Gallas zur Zeit der Großbaustelle, er ist jetzt vierunddreißig. Irgendwas müßte mit ihm geschehen, soll er nicht nur zufrieden sein, soll er sich nicht nur auf den letzten Abschnitt seines Lebens bis zur Rente vorbereiten. Er kann was, er weiß was, er ist ein Mann geworden.
7
In wenigen Wochen hatte sich die Ebene in ein riesiges Lager verwandelt. Von der etwas höher gelegenen Straße aus gesehen, die an der Mülldeponie vorbeiführte, war das Gelände von oft benutzten Fahrwegen kreuz und quer aufgeraut. Pausenlos rollten überschwere Wagen mit ihren Lasten über diese Wege, Kräne entluden sie an den dafür bestimmten Plätzen. Es war vorauszusehen, daß bei einsetzendem Schlechtwetter in Herbst und Winter die jetzt schon ausgefahrenen Wege unüberwindliche Hindernisse bilden würden.
Zunächst sollten provisorische Trassen entstehen, die an den zuerst fertigzustellenden Bauobjekten vorbeiführten. Ein Gewirr von Schildern mit Ziffern und Buchstaben leiteten die Fahrer der Wagen zu den Plätzen. Oft genug verirrten sich die Anlieferer trotzdem, fanden erst nach langem Suchen die Bestimmungsorte, obgleich eine Einweisungsstelle geschaffen worden war. Sie lag in der ersten aus Fertigteilen errichteten Baracke, vor der eine große Schilderwand die wichtigsten Daten und Informationen enthielt.
Am Rande der Bahnlinie war das Zeltlager entstanden. Schon in der dritten Woche kamen ununterbrochen neue Leute aus einem Dutzend anderer Baubetriebe an. Niemand hatte immer einen genauen Überblick, wie viel Menschen überhaupt schon die Baustelle bevölkerten. Die Neuankömmlinge bezogen die großen Hauszelte, es mangelte an Unterbringungsmöglichkeiten. An mehreren Stellen der Zeltstadt gab es Wasch- und Trinkwasser, es lief aus zahlreichen Hähnen in hölzerne Auffangrinnen, die das Wasser in einen rasch aufgeworfenen Graben ableiteten. Ein besonderes Zelt blieb der Küche und Kantine vorbehalten. Nur die Leute der Vorausabteilung aßen noch in der «Schleuse», sie bildeten schon so etwas wie eine Stammbesatzung, kannten sie doch die meisten Punkte, Wege und Anlaufstellen aus den ersten Wochen. In der Regel waren sie zuerst damit beschäftigt, den neuen Leuten Ortskenntnis beizubringen. Gekocht wurde in der Zeltküche an mehreren Gulaschkanonen, die Vorräte lagerten jedoch in festen Baracken. Übrigens hatte die Küche auch noch sämtliche Kaltverpflegung zu beschaffen, eingeschlossen die Getränke, Kaffee, Bier, Brause, Tee. Zu gewissen Zeiten wimmelte das Zelt von verärgerten, herumbrüllenden Leuten. Am geschlossensten arbeiteten in diesen Wochen noch die ausgeborgten Einheiten der Armee. Sie rückten auf ihren Mannschaftswagen pünktlich an, übernahmen die dringendsten Arbeiten, verlegten provisorische Leitungen für Strom und Telefon. Die Leere des Geländes, wie sie sich noch vor drei Wochen geboten, war urplötzlich in eine unübersichtliche, drängende Fülle umgeschlagen.
An verschiedenen Stellen war mit Ausschachtungsarbeiten begonnen worden. Bagger arbeiteten an Baugruben; in langer Reihe standen die Transportfahrzeuge, nahmen die Erdladungen auf und fuhren sie ab. Fieberhaft wurde auch an einigen weiter entfernt gelegenen Stellen gebaut. Hier entstanden mehrere Wohnblöcke für die ausländischen Arbeiter, denen ein gewisser Komfort geboten werden sollte. Irgendein örtlicher Wohnungsbaubetrieb kam damit ganz gut voran, er unterstand der Oberbauleitung. Später sollte das Kraftwerk die Wohnsiedlung für sein Stammpersonal übernehmen. Über dem ganzen riesigen Areal lagerte ständig eine Dunstwolke stinkender Abgase.
Der Frühling mit mildem Wetter, leichtem Regen und wärmendem Sonnenschein war gekommen. Gesträuch und die wenigen Bäume, die mehr aus Zufall stehen geblieben waren, zeigten Triebe und Knospen, der Geruch von Frühling mischte sich mit dem Dieselgestank. Der Waldstreifen, der das Gelände begrenzte, lag näher, als bei dunstigem Wetter anzunehmen. Ein Teil der Zeltstadt lehnte sich an dieses Waldstück an, das eine geringe Ausdehnung besaß, aber immerhin ein Stück Natur bot. Was aus größerer Entfernung für Sandboden gehalten werden konnte, erwies sich als tiefer Lehm von verschiedener Färbung. Helles Ocker wechselte mit Rostbraun. Bei länger anhaltendem Regen konnte das Wasser nicht versickern, es stand in mächtigen glitschigen Tümpeln auf den Fahrwegen, oder es bildete einen zähen Schlamm in den schon ausgehobenen Baugruben. Da alle bewegten Lasten ein hohes Gewicht hatten, da die Fahrzeuge selbst ein tonnenschweres Gewicht darstellten, sank die Fahrspur von Fahrt zu Fahrt tiefer. Die Profile der Räder griffen nur noch schlecht. Mehr als einmal mußte nachgeholfen werden, ein Traktor oder eine Raupe schleppten dann die steckengebliebenen Wagen an, bis sie wieder auf befahrbaren Wegen standen.
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