Die Höfe ernähren keine Familie, auf den leichten Böden sind nur schlechte Erträge zu erzielen, Roggen, Kartoffeln, Gerste, mit Weizen hat man hier kaum Glück. Die wenigen größeren Bauern behelfen sich bei Mißernten durch Holzverkauf, ein Bauer ohne Wald kann hier nichts werden. Bauern gibt es auch nur wenige, es sind meist Nebenstellen, die Besitzer gehen über Tag zu «Schwarzkopff» arbeiten, als Handlanger,'Transportarbeiter. Anfang der dreißiger Jahre wird es üblich, die Söhne bei «Schwarzkopff» einen Industrieberuf lernen zu lassen, zur Sicherheit. Sie bleiben aber trotzdem so etwas wie Bauern. Allmählich verändert sich die Dorfstruktur. Es gibt schon Familien, die nur noch kleine Flächen für den Eigenbedarf bewirtschaften, aber das Schwein, Geflügel, Kaninchen, manchmal die Kuh werden weiter gehalten. Auch Gemüse und Kartoffeln werden selbst gezogen. In den zwanziger Jahren geschieht etwas Wichtiges, die Stadt Berlin schiebt sich weiter in die Randgebiete vor. Auf kleinen Parzellen entsteht eine Siedlung von stadtmüden Leuten. Der Fluß, die umliegenden Seen sind fischreich, man kann angeln, und es lohnt sich auch für einige kleinere Handwerker, Betriebe zu eröffnen. Tischler oder Schreiner, Maurer, Brunnenbauer, ein Bootsbauer siedeln sich an, finden ein Auskommen.
Auch die nahe Kleinstadt hat an dem Aufschwung teil, zwei ältere Baubetriebe erweitern Personalstand und Leistungen. In einem davon arbeiten der alte Gallas und zwei seiner Söhne. Während der Saison schultern Vater und die Söhne ihre Rucksäcke, Bauberufe sind Rucksackberufe, setzen sich auf die Räder und fahren die zwölf Kilometer in die Kreisstadt, oder sie fahren gleich zu den umliegenden Baustellen, Siedlungshäuser werden gebaut. Während des Winters sind die Männer zu Hause, haben auch so zu tun, ein Schlag Getreide, ein Schlag Kartoffeln, das Vieh, Schwein, Hühner, paar Schafe, Kaninchen, sind zu versorgen. Feuerholz muß geschnitten werden, Reparaturen am Haus fallen an. Geräte müssen durchgesehen werden, aber es ist doch eine Ruhezeit. Man ist übrigens sicher, zu Saisonbeginn wieder Arbeit zu haben.
Bernhard Gallas, der jüngste, ein Nachkömmling, verwöhnt von Mutter, Vater und den beiden erwachsenen Brüdern, hat eine gute Zeit. Trotzdem: Hier herrscht Ordnung, hier wird aufs Wort pariert. Vater Gallas ist ein harter Mann, für ihn gibt es nur Pflichten. 1933 wird Bernhard geboren, er erinnert sich an seine Brüder als an ausgewachsene Burschen in Soldatenuniform, der alte Gallas ist auch dienstverpflichtet, alle drei Männer sind kaum noch zu Hause. Die Mutter ist da. Haus, Ställe, Scheune, eine Masse Arbeit für anderthalb Menschen, denn Vieh will die Mutter nicht abgeben, Lebensmittelkarten bekommen sie nicht, Selbstversorger nennt man sie wegen ihres Landbesitzes, wegen des Viehs. In seiner Freizeit kümmert sich der alte Gallas um die Felder, aus der Nachbarschaft hilft dieser oder jener mit Pferd und Pflug aus, nicht für Geld, sondern im Austausch gegen Arbeitskraft, Bernhard und die Mutter helfen zur Erntezeit bei den richtigen Bauern aus. Alles in allem, reichlich Essen und Trinken ist da, Freundschaften gibt es auch und natürlich Feindschaften, das Leben spielt sich in den Küchen der gleichförmigen Häuser ab. Was der kleine Bernhard noch nicht sieht, ist, daß sich die Gestalt des alten Gallas von Jahr zu Jahr mehr krümmt. Er klagt nicht, aber es gibt Augenblicke, wo sich der alte Gallas stöhnend aus der gebeugten Haltung aufrichtet: Los, Junge, nimm du mal die Hacke. Und der Achtjährige buddelt Kartoffeln. Wenn ich groß bin, werde ich auch Maurer. - Jaja, Maurer. Mach mal hinne, wir müssen fertig werden, ich muß abends wieder weg.
Das Angebot an Berufen ist nicht groß.
Selbstverständlich besteht das Leben nicht nur aus Arbeit. Bernhard, sich bewußt werdend, daß zwei Brüder und ein Vater eine mächtige Kraft im Rücken sind, ist der Anführer beim Jungenspiel, und die Spiele verändern sich schnell. Mit dem abgeketteten Hund geht Bernhard los. Ich habe dir hundertmal gesagt, du sollst den Hund dalassen, der vertrottelt bloß. Ein Wachhund gehört an die Kette. Aber der Hund gehört zum Jungen, wenn der herumstreift, Hasen jagend, fischend, von großartigen Taten träumend, Stecken und Messer in den Händen.
Aus Spiel wird Ernst. Wenn dir der Berni zum Angeln geht, der fängt dir immer was, letztens brachte er einen Hecht, nicht zu reden von dem Kleinzeug. Der Hecht war vielleicht nicht so groß, wie die Mutter zeigt, aber der Junge schweigt, immer ist er der Größte. Der Bruder: Der Kleene hat dir doch neulich mit dem Maurerhammer gespielt, ich sag dir, Vater, der schlägt jetzt schon einen Daumenbreit glatt ab. Ganz so glatt war der Schlag wohl nicht, aber Bernhard gewöhnt sich an seine Rolle, überall der Erste, der Beste zu sein. Die Mutter: Du ersetzt mir jetzt den Mann. Du mußt ein Mann werden.
Das alles geht so über die ersten Kriegsjahre weg, da spüren sie keine Not, zumindest der kleine Bernhard spürt nichts davon, nichts von der Sorge um das Leben der älteren Jungen, nichts von der abnehmenden Kraft des Vaters. Der eine der älteren Söhne gerät in Gefangenschaft, für den ist der Krieg zu Ende, ist jetzt in Amerika. Der andere verliert einen Arm und wird entlassen. Der Krieg nähert sich. Die wasser- und sumpfreiche Gegend, im Südosten Berlins gelegen, eignet sich nicht für den Krieg. Größere Truppenverbände können sich hier nicht entfalten. Zwar müssen Vater und der einarmige Bruder zum Volkssturm in die Kreisstadt, da sind die Würfel jedoch längst gefallen. Die Schlacht auf den Seelower Höhen ist geschlagen, der Kessel bei Halbe südwärts geschlossen. Die Stadt Berlin ist kapitulationsreif.
Der zwölfjährige Bernhard entdeckt die fremden Soldaten zuerst: Die Russen kommen. Eine Panzerpatrouille rollt durch das Dorf, kein Schuß fällt, obschon sich die Leute in Keller und Verstecke geflüchtet haben. Auf den Panzern hocken die fremden Soldaten, die Dorfjugend betrachtet sie. Noch ist Krieg, die Panzer rollen weiter. Neue Züge kommen, Infanterie zieht durch das Dorf zwischen dem Fluß und der Landstraße. Jetzt ist der Krieg zu Ende.
In der Bürgermeisterei liegt ein Kommando Soldaten, ein flacher Zaun wird gebaut, rote Fahne aufgezogen, ein Wachtposten steht vor dem Eingang zur Kommandantur. Manchmal setzt sich der Soldat auf eine Holzbank, manchmal radebrechen er und die Dorfjungen in Russisch und Deutsch ein Kauderwelsch zusammen, aus dem niemand klug werden kann, dann helfen die Hände. Lungere mir nicht so viel bei den Iwans rum, Junge.
Die Schule beginnt wieder. Nach gar nicht langer Zeit verschwindet die Kommandantur, ein Bürgermeister wird eingesetzt. Es folgt eine Zeit der äußeren Not, jedes Stück Vieh wird erfaßt, jedes Ei wird gezählt. Ein schlimmes Ereignis, der Bürgermeister wird eines Nachts, es ist eine Dezembernacht, in einem Waldstück ermordet. Dieser Bürgermeister faßte die Leute hart an, es wurde gesagt, ein Russenknecht. Die Untersuchung des Falles verläuft ergebnislos, keiner hat etwas gesehen. Ein neuer Bürgermeister kommt. Vorher noch wird das Dorf von einer Invasion heimgesucht, Aussiedler, Umsiedler, Flüchtlinge, sie liegen im Saal des «Kruges», in den Scheunen, müssen zwangsweise eingewiesen werden, sie hungern. Das Dorf steht gegen die Fremden zusammen. Weiter, aus den Gerüchten um eine Landreform wird eine Verordnung. Junkerland ist nicht da, nur zwei größere Höfe, die sollen aufgeteilt werden, aber die Hofbesitzer handeln rasch, aus einer Hofstelle werden zwei, die Anteile auf Familienangehörige übertragen. Das Dorf, das vom Krieg wenig erlebt hat, gerät erst jetzt in den, Strudel von Kämpfen, Kämpfe, die bis in die Familien hineingetragen werden. Der einarmige Bruder sieht eine Gelegenheit, Bauer zu werden. Immer schwankte das zwischen Handwerk und Landwirtschaft, Eigentümerdenken. Der alte Gallas: Vergreif dich man an fremdes Eigentum, das mach mal, und wenn es anders kommt? Aber der Bruder nimmt doch eine Siedlerstelle, heiratet. Das muß man sich vorstellen, ein einarmiger Bauer auf Sandböden, ohne Wald, ohne Vieh, ohne Gerät, ohne Maschinen. Gallas und die beiden Söhne, Bernhard nun schon dreizehn, bauen ein Haus, gedeckt wird es mit Schilfrohr, Schilf schneiden sie selbst. Täglich wird das Dorf von notleidenden Städtern heimgesucht, täglich wird getauscht und gehandelt.
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