«Für mich nicht», sagte Hermann, «dann kannste mich schon jetzt begraben. Was haben wir denn für Technik?»
«'ne ganze Menge.» Schulz stellte Teller und Tassen zusammen, brachte sie zum Nebentisch, um Platz für seine Listen zu haben, und setzte sich wieder auf den Stuhl am Fenster: «Wir werden die erste Zeit wahrscheinlich bloß hin und her fahren und Ersatzteile ranschaffen müssen. Dafür haben wir zwei Fahrzeuge, damit müssen wir auskommen. Ich hab gleich gesagt, mit drei Mann hier raufzugehen hat keinen Zweck, aber ihr kennt ja unseren Saftladen. Nicht mal 'ne Grube ist da.»
«Ich denke», sagte Pauli, «die wollen hier ein mächtiges Kraftwerk bauen? Es sollte ja auch eine unheimliche Ehre sein, hier raufzugehen. Die Besten in die vorderste Linie?»
«Nun will ich euch mal meine Meinung sagen», Hermann schaltete sich wieder ein, «wenn sich das hier nicht einigermaßen einspielt und bald einspielt, dann hau ich ein den Sack. Ich bin ja nicht verrückt, daß ich meine Gesundheit ganz ruiniere. Was ist das überhaupt für eine Scheißgegend? Habt ihr den Mülldreck gesehen? Und die Baustelle? Seht euch mal die Kneipe hier an, könnt ihr euch vorstellen, was hier übers Wochenende los ist?»
«Null», sagte Schulz bedrückt, «wir müssen eben sehen, daß wir bald in die Wohnbaracke kommen.»
«Ist auch nicht besser.»
«Seid mal still», sagte Pauli «der Alte will was erzählen.»
5
Der Leitertisch bot gleichsam einen Altersquerschnitt vom jüngsten Sprinter bis zum abgebrühten Profi. Doktor Koblenz, Oberbauleiter, hatte noch vor dem Essen seine Armbanduhr abgenommen und auf den Tisch vor sich gelegt. Pünktlich um halb zwölf, wie mit dem Wirt der «Schleuse» vereinbart, stand das Mittagessen auf dem Tisch. Jetzt ging es auf halb eins. Mit einem Blick rundum stellte Koblenz fest, daß die Leute der Vorausabteilung vom Essen zum Trinken übergegangen waren.
Koblenz war keine stattliche Erscheinung, selbst hinter seinem Schreibtisch wirkte er meist wie ein kleiner Referent, übergenau in der Arbeit und lächerlich korrekt in Kleinigkeiten. Im Gehen zog er den linken Fuß etwas nach. Freilich sah man Koblenz selten gehen, er bevorzugte selbst für ganz kurze Strecken das Auto, fuhr stets die neuesten Modelle und schreckte vor keiner Geldausgabe zurück, falls ein schnellerer Wagen auf den Markt kam. «Machen Sie sich mal klar, daß Treibstoff fast so teuer wie Kaffee ist», mit diesem Satz überraschte er seinen Zuhörer, der sich dann auch häufig in düstere Berechnungen vertiefte.
Hinter der randlosen Brille funkelten blaue Augen, über der Stirn war der Haarwuchs so spärlich, daß die rosige Kopfhaut hindurchschimmerte. Feste, energische Lippen schlossen sich über vorstehende Zähne.
«Wir wollen in fünf Minuten anfangen»
Koblenz band sich seine Uhr um das Handgelenk, und gehorsam wie Automaten standen Gablenz und Alters auf.
Gablenz war ein mächtiger, kompakter Fleischberg, ganz Ruhe. Alters wirkte dagegen beweglicher, seine Gestalt war nur mittelgroß. Gablenz benötigte seine Brille nur zum Lesen und Schreiben, aber Alters brauchte dauernd eine Brille.
«Wer hat die Dias?»
«Sie sind im Wagen», sagte Alters.
«Dann hol sie», Doktor Koblenz reichte ihm die Wagenschlüssel. «Ihr könntet mal die Kinoleinwand aufstellen.»
Das Ihr richtete sich an Gablenz und Kisko, einen jungen Mann von höchstens dreißig Jahren, der mit am Tisch gesessen hatte, jetzt aber aufgestanden war. Kisko, Gablenz und Alters bildeten den Stab der Vorausabteilung, Gablenz und Alters kannte der Oberbauleiter, Kisko war noch ein unbeschriebenes Blatt. Koblenz empfand einen heftigen Widerwillen gegen den jungen Mann, er hatte überhaupt etwas gegen Absolventen. Diese Abneigung beruhte allerdings auf Gegenseitigkeit. Jetzt erwartete Koblenz Einspruch von dem jungen Bauingenieur, der Oberbauleiter wußte natürlich genau, daß der Ton, in dem er seine Anordnung gegeben hatte, ihrem Verhältnis nicht angemessen war.
«Kann ich erst mal telefonieren», fragte der junge Mann. «Nachmittags hast du genügend Zeit.» Koblenz spürte den Versuch Kiskos, sich aufzulehnen. Der glaubte sich in seiner Würde als Bauingenieur verletzt, in seiner Würde als Sohn eines berühmten Mannes; ein Karrierist, ein Mann ohne Biografie war Kisko. Hier würde er eine Geschichte bekommen, oder er würde untergehen. «Wir wollen jetzt keine Zeit mehr vertrödeln, ich will später noch auf die Baustelle raus.» Er wandte sich direkt an Kisko. «Du kannst ein Teilobjekt übernehmen, bis Pilgramer kommt.»
Er ließ sich Zeit, er ließ dem Anderen Zeit. Kisko verstand, daß er ein Ersatzmann war.
Gablenz fragte: «Hast du den jungen Pilgramer aufgerissen?»
Doktor Koblenz bildete sich nicht wenig darauf ein, Kader zu finden. Es war so etwas wie ein Gesellschaftsspiel für ihn. Fähige Leute sind rar, meinte er, und wer einen guten Kader auftrieb, der war selbst ein fähiger Kopf.
Allein zurückgeblieben lehnte der 0berbauleiter den Rücken an die Stuhllehne und ließ seinen Blick von Tisch zu Tisch wandern. Da saßen die drei Maschinentechniker, unentbehrliche Leute, die Koblenz kannte und die ihn kannten, die wußten, daß er alles durchschaute, jedes Manöver, jede Manipulation. An dem großen Achtertisch saß das junge Gemüse, das sich in ein Pionierleben hineinträumte. Die wollten etwas erleben, Ungebundenheit, Freiheit. Sie sollten was erleben, sagte sich Koblenz. Viel wert waren diese acht Jungen sicherlich nicht, zumindest nicht in der ersten Zeit, in der schweren Periode des Anfangs. Auf der Suche nach Unterstützung, nach Rückhalt geriet Koblenz Blick an den Gallas-Tisch. Die alten Leute hatten sich sofort wiedergefunden, sie zeigten durch die Tischordnung deutlich, wie ungefähr die künftigen Autoritätsstrukturen verlaufen würden, Gallas, Weichand, Fouché, Kachulla; Koblenz entsann sich sofort gemeinsamer Arbeit. Die wußten, was sie erwartete, die ließen sich zwar nicht widerspruchslos hin und her schieben, schon gar nicht Gallas, dafür brauchte man aber auch nicht dahinter zu stehen und jeden Handgriff zu kontrollieren. Betonfacharbeiter, Eisenflechter, Maurer, die noch gelernt hatten eine Mauer tadellos hochzuziehen, eine Wand zu putzen, ohne daß sie Wellblech glich. Manches korrigierten sie ohne Aufhebens und Gallas ersetzte zwei Bauleiter. Namentlich Gallas liebte Koblenz. Gallas schien ihm beinahe verwandt, und so winkte er auch jetzt zum Tisch hinüber, und seine scharfe Stimme klang durch die Gaststube: «Gallas, kommen Sie doch mal auf einen Moment rüber, ja?» Er beobachtete, wie Gallas in Ruhe sein Bier austrank, etwas zu Kachulla sagte, Weichand die Hand auf die Schulter legte und aufstand. Gallas hatte einen federnden athletischen Gang. Ein kurzer Rumpf bewegte sich auf langen kräftigen Beinen, ein Seemann, Soldat oder Akrobat hätte Gallas sein können, und er vereinigte wahrscheinlich alle die Eigenschaften in sich die Soldaten, Seeleute und Akrobaten ausmachten. Sein hartes, kantiges Gesicht mit den leicht angehobenen Mundwinkeln und den zusammengekniffenen Augenlidern, dieses Mißtrauen und Suchen ausdrückende Gesicht eines stahlharten Burschen gefiel Koblenz außerordentlich.
Wärme überflutete ihn, als er Gallas aufforderte, sich zu setzen, und ihn zu einem Glas einlud; sichtbar für alle zeichnete er den Bauarbeiter Gallas aus. Alle beobachteten den Vorgang, und Gallas sowohl als auch Koblenz waren sich der Wirkung dieser Szene bewußt. Koblenz bekräftigte es noch, indem er sagte: «Ja, Gallas, das wird eine harte Nuß werden mit diesen aufgeregten Schneiderlein dort drüben, was meinen Sie?»
«Sicher», erwiderte Gallas, «darüber haben wir eben auch gesprochen.»
«Ich will Ihnen erst mal sagen, daß ich froh bin, Sie hier zu haben, ich rechne auf Sie, wir paar Mann sind nur ein elend kleiner Haufen, was, Gallas? Ich will den Leuten jetzt das Vorhaben erläutern, und hören Sie, wie wollen wir die Trupps einsetzen? Wir müssen unbedingt ganz kurzfristig eine leidliche Baracke zusammenbauen. Telefon brauchen wir auch sobald als möglich. Ich bin jetzt ganz Ohr?» Koblenz lächelte und winkte den drei Bauleitern zu, die Leinwand und Bildwerfer aufstellten. Dazu mußten die Tische geräumt werden, es gab ein Durcheinander und eine angenehme Unterbrechung, geschah doch jetzt endlich was.
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