«Er soll sich um die Träger kümmern», sagte Gallas, zufrieden mit dem Ausgang des Gesprächs, «das ist überhaupt so eine Scheiße, daß wir immer mit dem Nachschub so knapp sind.»
Koblenz zog die Schultern hoch. «Wenn man nicht alles selbst macht, Gallas. Vielleicht habe ich für die nächste Phase einen guten Mann. Den kennen Sie übrigens, es ist Pilgramer.»
Gallas überlegte. «Der muß doch bald achtzig sein.»
«Nicht der Alte, sondern der Enkel.»
Gallas sagte: «Der Alte hat damals viel bei uns gebaut»
«Schön.» Koblenz erhob sich. «Mal sehen; wie sich die Angelegenheit entwickelt. Ich habe den jungen Pilgramer fest im Wort. Dann nehme ich Kisko zu mir rein.»
Gallas fuhr zurück.
Spät am Nachmittag kam Kisko heraus, gab vor, irgendwas kontrollieren zu wollen, stellte Gallas ein paar Fragen und sagte zum Schluß: «Es war doch wohl klar, daß ich nicht über Ihren Kopf hinweg entschieden hätte. Aus einer Bemerkung sollte keiner den Schluß ziehen, ich hätte eine Anweisung, erteilt.»
«Ist gut, Kollege Kisko», sagte Gallas. Er dachte, dessen Tage sind jedenfalls gezählt, auch der Alte hat ihn gefressen. Jetzt biedert sich der Junge an, nicht bei mir, nicht bei Gallas. Was soll überhaupt das gespreizte Gequatsche, unter Bauarbeitern.
«Was die Träger betrifft», sagte Kisko, «die rollen in den nächsten Tagen an.»
Biografie
Wolfgang Kisko - Theorie und Praxis in Übereinstimmung bringen
Randsiedlung einer Großstadt, eine Straßenbahn verbindet viele solcher Siedlungen zu einem zusammenhängenden Revier, später wird das ein industrielles Ballungsgebiet genannt. 1940, in Kiskos Geburtsjahr, trägt die Siedlung, trägt das ganze Gebiet noch die Spuren des Frühkapitalismus; dann entstanden aus Werkstätten, Handwerksbetrieben, bäuerlichen Wirtschaften in einem schnell verlaufenden Prozeß große Industrien, Chemie, Spinnereien, Gießereien, Großschmieden. Früh auch polarisierte sich die Bevölkerung in Arm und Reich, der Mittelstand verschwand mehr und mehr.
Der Vater Kiskos ist Werkmeister in einem Chemiebetrieb. Als Wolfgang Kisko geboren wird, ist er reklamiert, er wird immer reklamiert bleiben. In den kleinen Gärten der Siedlungshäuser ist das Grün grau eingepudert, ein Wunder, daß hier überhaupt noch etwas gedeiht. Man kann hier nicht leben, man muß aber hier leben. Kein Fluß, kein Rinnsal, das nicht stinkt, jeder Wasserlauf ist ein Transportmittel für gelöste Chemikalien. Die Halden drohen schwarz am Horizont, ein dichtes Gleisnetz durchschneidet das Gebiet.
Auch die Mutter Kiskos ist dienstverpflichtet, Spülfrau in diesem Labor des Konzerns, solange der Krieg andauert. Im Hause des Werkmeisters lebt dessen ältere Schwester, sie versorgt den Jungen, sie kümmert sich um das Haus, den Garten, das Essen. Erst kommen die Amerikaner, rücken wieder ab, dann kommen die Russen, sie bleiben. Aus dem Chemiegiganten wird eine SAG, und Vater Kisko nimmt ein Studium auf, er wird Techniker, rückt, weil Mangel an Chemikern, auf in eine Forschungsabteilung, rückt immer weiter auf, durchläuft eine späte Karriere. 1945, noch vor dem Parteienzusammenschluß, tritt er in die Kommunistische Partei ein, arbeitet nicht mehr in der Praxis, sondern ist Mitarbeiter in der Parteileitung. Den Rest seines Lebens verbringt er auf Schulen, er wird Diplomchemiker. Alles, was unter Mühen erarbeitet, bricht zusammen, als Vater Kisko nach einem Infarkt 1964 Rentner wird. Sie ziehen weg aus der ungesunden Gegend, bekommen eine Wohnung in einer Großstadt. Wolfgang, 1946 eingeschult, lernt gut, lernt schnell. Diese ganze Familie lernt immerfort, auch die Mutter hat sich noch zur Laborantin heraufgearbeitet. Wolfgang wird Freundschaftsratsvorsitzender: Junge Pioniere lernen gut, junge Pioniere achten ihre Eltern.
Der Vater: Die Kinderorganisation der Kommunistischen Partei hat eine lange Tradition, Wolfgang. Aus ihr gehen die künftigen Kader hervor, treue Söhne der Klasse, unsere stärkste Waffe ist die Organisation, wie Bebel sagt. Als damals die Reichswehr bei dem Leuna-Aufstand ... aber das wollte ich gar nicht sagen. Ich wollte sagen, daß selbst die Kleinsten beim Aufbau des Sozialismus mithelfen können, Altstoffe sammeln zum Beispiel. Theorie und Praxis müssen übereinstimmen.
Für Wolfgang ist das Leben eine einfache, nach Regeln verlaufende Sache; konzentriert lernen, konzentriert spielen, konzentriert kämpfen. In einem Pionierferienlager während des Sommers werden westdeutsche Spione und imperialistische Diversanten dingfest gemacht. Pionierauftrag erfüllt: Die junge DDR ist eine Sache, die uns mit ganzer Liebe erfüllt, unsere ganze Kraft geben wir dem Arbeiter-und-Bauern-Staat, dem ersten auf deutschem Boden.
Der Vater: Du bist nun schon etwas größer, man kann mit dir schon über mancherlei sprechen, dir erklären. Die Menschheit steht also in einem jahrtausendelangen Befreiungskampf, es gab Teilerfolge, es gab frühkommunistische Träumer, aber Gestalt bekamen diese Träume erst durch Karl Marx, Friedrich Engels, durch Lenin und Stalin. Jetzt also beginnt das Menschenglück, wenn wir auch noch schwere Kämpfe mit den Bonner Ultras, dem westdeutschen und amerikanischen Imperialismus zu bestehen haben werden. Die Uhr läuft jedenfalls nicht gegen uns.
Geradlinig verläuft der weitere Weg Wolfgangs, 1954 Freie Deutsche Jugend, Sekretär seiner Gruppe: Wir kämpfen darum, daß jeder Angehörige unseres Jugendverbandes das Blauhemd trägt, das ist eine Ehrenpflicht. Die großen Erschütterungen, der Tod Stalins, der 17. Juni, der xx. Parteitag der KPdSU, alles wird von dem Jungen noch leicht absorbiert.
Der Vater: Die kommunistische Weltbewegung, mein Junge, besitzt eben wie keine andere Bewegung - sie ist ja überhaupt die einzige, die heute eine Massenbasis hat - die Fähigkeit, Widersprüche auszutragen. Das geht bis in die Familien, natürlich. Nicht bei uns, selbstverständlich. Ich meine nur im Prinzip.
Dann die Frage, was willst du werden? Zum ersten Mal kann Wolfgang keine klare Antwort geben. Er kann nicht sagen, dies oder das würde ich zu gern lernen. Aber er kann leicht Gründe für diesen oder jenen Beruf aufzählen. Die Volkswirtschaft braucht . .. Er beginnt eine Maurerlehre; er absolviert die Lehre nicht auf dem Bau, sondern in einer Sondereinrichtung, allgemeinbildende Schule - Abitur - Ausbildungsstätte - Maurer.
Mit Bauarbeitern kommt er nicht viel in Berührung, andere Erfahrungen prägen sein Leben. 1958 kommen Offiziere der Nationalen Volksarmee in den Betrieb. Sie suchen Kader. Wolfgang verpflichtet sich zum Soldat auf Zeit, tritt in die Sozialistische Einheitspartei ein, sichert die Grenze am 13. August.
Der Vater: Ich habe aufgeatmet, mein Junge, als ich davon hörte. Na ja, ich bin ja leider zu nichts mehr zu gebrauchen, aber ich habe einen Stellvertreter in meinem Sohn. Wir haben gezeigt, daß wir sehr wohl imstande sind, unsere Errungenschaften mit der Waffe in der Hand zu schützen und zu verteidigen. Es wird nie wieder einen deutschen Faschismus geben, nicht hier auf unserem Boden. Gewiß, es ist schwer, das Leben ist schwer, alle unsere Entscheidungen sind es. Immerhin, deinen Ehrendienst hast du geleistet. Maurer. Soldat? Willst du das? Ich könnte mir vorstellen, daß du Architekt wirst oder Bauingenieur.
Bauingenieur?
Nach vierjähriger Dienstzeit geht Wolfgang mit einem Unteroffiziersgrad ab, er bewirbt sich an einer technischen Universität. Seine Taten räumen ihm Vorrang bei der Berücksichtigung ein. 1962 beginnt er sein Studium.
Aber im Laufe des Studiums geschieht etwas. Zu Anfang verläuft noch alles glatt und ohne Hindernis, da scheinen noch alle einfachen Regeln zu gelten. In den Fächern Philosophie und Gesellschaftswissenschaft kommen jedoch plötzlich heikle Fragen auf den Tisch, Fragen der Revolutionstheorie, Fragen der Determinierung, Fragen ... die Zeit ist weitergegangen, sie unterscheidet sich von der Aufbruchstunde, die der Vater Kiskos mitbestimmte.
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