Der Vater: Was meinen wir? Es ist durchaus nicht entschieden, ob unter diesen Bedingungen der Evolution nicht auch der revolutionäre Zug innewohnt.
Ist das nicht ein pragmatischer, ein taktischer Zungenschlag, Vater? Der Marxismus determiniert doch deutlich ...
Der Vater: Ja, unter klassenantagonistischen Bedingungen, bei uns sind diese Widersprüche aber aufgehoben. Ich nehme an, du kommst zum ersten Mal mit der exakt wissenschaftlichen Fragestellung unter heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten in Berührung. Vielleicht läßt sich unser gesellschaftliches Ideal am ehesten in straff organisierten Gruppen verwirklichen, ich meine, die Volksarmee hat dich natürlich vorgeprägt.
Ich wollte auf etwas ganz anderes zu sprechen kommen, Vater. Die aufgehobenen Widersprüche ...
Der Vater: Widersprüche kann man nicht aufheben, sie stellen eine unlösbare Verknüpfung dar, lehrt unsere marxistische Theorie.
Vater, ich denke manchmal, daß ich gar nichts weiß. Philosophie, Gesellschaftswissenschaft, Soziologie, was sich vom Katheder vermitteln läßt, das wurde mir doch vermittelt? Aber sonst stehe ich hilflos da. Du hattest einen riesigen Vorteil, du hattest die Lebensschule schon hinter dir, als du mit der Theorie in Berührung kamst. Ich soll aus der Theorie auf die gesellschaftliche Praxis schließen. Die Leute sind nicht alle gleich, nicht mal in Bezug auf die Theorie. Jeder hat seinen eigenen Sozialismus, kann man vielleicht sagen, das ist Unsinn. Natürlich.
Hättest du nicht lieber Philosophie studieren sollen, Wolfgang? Bauingenieur, was verstehst du denn vom Bau? Eilig ausgebildet, vielleicht zu eilig. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Wir sollten es überlegen. Ich mache mir Sorgen um dich, mein Junge.
Während eines Studentensommers, eines Einsatzes in Schwedt an der Oder, trifft Wolfgang Kisko auf eine Gruppe junger Leute. Die Sache hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte. Wochenlang war an der Universität geworben worden, bis sich eine Schar von hundertfünfzig Studenten für einen Einsatz in Kasachstan gebildet hatte. Kasachstan fiel ins Wasser, aus irgendeinem Grund, dafür wurde in aller Eile Schwedt eingesetzt. Die Organisatoren verschickten Telegramme an die Kasachstan-Studenten, es waren Ferien, teilten den neuen Einsatzort mit. Statt der erwarteten hundertfünfzig erschienen nur ein paar Dutzend. Die fuhren nach Schwedt, meldeten sich an einem Montag bei einem Bauleiter, dreißig bis vierzig junge Männer und Frauen aller möglichen Studienrichtungen, wenig Bauleute.
Der künftige Bauingenieur Kisko wird zum Sprecher gewählt.
Der Bauleiter: Ich habe gestern erst das Telegramm bekommen, daß ihr hier aufkreuzt, wie viel? Ungefähr vierzig. Paßt mal auf, ich habe überhaupt keine Arbeit für euch. Na, die Sache ist die, bis zum Oktober ist ein Trakt an das Fernheizwerk anzuschließen. Die Wohnungen stehen, die Mieter können einziehen, irgendwo ist das mit der Trasse versaubeutelt worden, solche Scheiße habe ich hier jeden Tag am Halse. Wir haben zwei Bagger angefordert, die sind auch da, in ein paar Tagen hätten wir die Gräben fertig. Da kommt ihr mir dazwischen. Außerdem hab ich mehr zu tun, als auf euch aufzupassen. Stell deine Leute mit Hacke und Spaten ran, ich weiß, das ist lachhaft, aber was soll ich machen? Ich bin für euch abgestellt, als hätte ich keine anderen Sorgen. Erklär es deinen Jungens, die so was ausdenken, müssen ja wohl Sägespäne im Kopp haben. Ihr könnt ja nicht mal 'ne Kelle halten.
Die Studenten liegen in einem fertigen Wohnhaus, verteilt auf die einzelnen Wohnungen. Sie gründen eine Brigade, und sie haben einen glänzenden Einfall. Sie werden die Probe aufs Exempel machen, gemeinsame Arbeit, gemeinsames Leben. Was sie verdienen, soll zu gleichen Teilen verteilt werden, kommunistisch leben wird geprobt. Tagsüber stehen sie in den Gräben, hacken, schaufeln, beträchtliche Unterschiede in der Leistung zeigen sich. Es gibt Wühler und Drückeberger, bald reißt sich alles nach den Aufträgen, die von der Handarbeit befreien. Abends sitzen sie in einem großen Zimmer, reden über ihre Erfahrungen. Es wird geraucht, Tee oder Kaffee getrunken.
Ich denke Folgendes, bei Handarbeit, ich meine, auf solcher Produktionsstufe läßt sich Kommunismus überhaupt nicht verwirklichen. Hier spielen andere Probleme mit hinein.
Auf mechanistische Weise läßt sich das nicht erklären, du vergißt die Rolle des Bewußtseins.
Du unterstellst mir Mangel an Bewußtsein, aber ich sage dir, du hast in den letzten drei Tagen kaum zwei Stunden auf der Baustelle wirkliche Arbeit geleistet. Sieh dir mal meine Pfoten an.
Sollen wir nun dieses System wieder aufgeben, wie ist eure Meinung?
Wir haben nen schönen Reinfall erlebt. Die sollen die Bagger einsetzen.
Der Bauleiter: Hör mal, Wolfgang, ich frage mich wirklich, wo ihr lebt. Die Arbeiter lachen euch aus, und die leisten das Zehnfache. Ihr solltet bloß ein paar hundert Meter Graben ausheben. Jetzt sitzt du da und verlangst von mir, daß ich die Bagger einsetze? Ich mach es auch, mir bleibt gar nichts übrig, ich habe Termine. Von deinen vierzig Mann sind kaum noch fünfundzwanzig da, ich mach drei Kreuze, wenn der Rest weg ist. Und solche Jungens sollen eines Tages mal das Kommando übernehmen?
Im zweiten Studienjahr lernt Kisko Linda kennen. Sie studiert Medizin, Zahnmedizin.
Mann, nimm doch nicht alles so schwer. Ich fühle mich rundherum wohl, sag ich dir. Wir sind noch jung, das Leben liegt vor uns. Wenn du fertig bist, gehst du in ein Institut, es wird sich schon was finden. Ich? Für mich ist auch gesorgt.
Sie heiraten.
Die Familien befreunden sich, die Väter besorgen eine Neubauwohnung und lassen die Kinder wählen, einen Trabant oder …; da gibt es kein Oder. Kisko macht Diplom, geht aber an kein Institut, sondern zum Kraftwerkbau. Er will etwas leisten.
Koblenz: Schön, etwas leisten, ich nehme mit Kußhand, wer etwas leisten will. Lieber ist mir einer, der etwas leisten kann. Ich mache dir nichts vor, wir haben ein heikles Projekt übernommen, im RGW-Rahmen, das sind natürlich tastende erste Schritte. Es gibt überall traditionell bestimmte Methoden, ich rechne sogar mit einer freundschaftlichen Rivalität. Da kommen also die Polen, gute Schornstein- und Kühlturmbauer, da ist Moskabel mit seinen Hochleistungskabeln, die Turbinen kommen aus Leningrad, aus Ungarn die Elektrofilter. Alles zusammen ergibt ein paar Dutzend Leiter mit ihren Stäben, mit genauen, national geprägten Vorstellungen. Wir sind Teilauftragnehmer vom Kraftwerkbau, bis jetzt kenn nicht mal ich mich in diesem Leitungswirrwarr aus. Es wäre mir lieber, du würdest hier im Stammbetrieb bleiben. Ich spreche aus Erfahrung.
Kisko will etwas leisten.
Mach es dir nicht zu schwer. Spätestens nach einem Vierteljahr rasseln wir zusammen, mit der Gewißheit, wie sich zwei Magneten anziehen, wie rotierende Kreissägen, die aufeinander zufahren. Mir nutzen deine vielen Empfehlungsschreiben nichts, und dir nutzen sie noch weniger. Jeder gewiefte Maurer steckt dich in den Sack. Arbeiterklasse aus der Nähe betrachtet ist anders, als du denkst. Wenn du das Gefühl hast, du müßtest dir die Sporen verdienen, gut, aber nicht hier, nicht auf dieser Baustelle.
Ich möchte es versuchen, Genosse Doktor Koblenz. Jedenfalls werde ich mein Bestes geben.
Junger Mann, Bilderbuchkarrieren sind gut für die Zeitung, Geschrei, keine Wolle. - Du hast noch keine Biografie, das ist es.
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Hochsommer, beinahe schon Sommerausklang und ein Datum für den alten Herrn, eines seiner Berufsjubiläen. Die häufen sich in seinen Jahren. Architekt Schelsky hat ihn abgeholt zu einer Fahrt nach Mahlsdorf. Dort erwarten ihn der Enkel und dessen neue Freundin. Elfie, die mit sollte, hat abgelehnt. Einen Anzug mit Weste trägt der alte Herr und eine bunte Schleife, aber keine Kopfbedeckung. Viel Post ist nicht gekommen, Glückwunschschreiben und Telegramme; sogar ein Architektenbund erinnerte sich seiner, das meiste kam aus dem Ausland.
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