Der alte Herr Pilgramer sitzt neben dem Architekten Schelsky, sieht durch die Frontscheibe, beobachtet den flutenden Verkehr in der Karl-Marx-Allee, fingert hin und wieder nach dem Zigarrenetui, sich vergewissernd, daß es noch da ist.
Er vergißt jetzt so leicht, vergißt solche Kleinigkeiten, dafür stehen ihm überdeutlich die Bilder seiner Vergangenheit vor Augen. Mitunter übertreibt er seine Vergeßlichkeit. Jetzt zum Beispiel versucht er zu berechnen, wie oft er diese Straße hinauf- und hinuntergefahren ist; wie oft bot die große Allee ein anderes Bild.
Schelskys Wagen rollt über die Kreuzung Frankfurter Tor; auf der linken Seite, alleenah, standen die Häuser, die Pilgramer vor grauen Zeiten erbaute. Damals war er als Bauunternehmer pleite, als Bauleiter bekam er Gehalt. Er wohnte, bevor die Häuser fertiggestellt waren, mit Luise in Alt-Stralau, einer fast ländlichen Gegend zu jener Zeit, und die Zentrale lag noch in der Oranienburger, was heißt Zentrale, man wickelte alles Geschäftliche so nebenher ab. Und stolz war er auf seine Organisationsgabe, das Telefon auf der Baustelle, eine Neuerung, die Bürohilfe auf der Baustelle, auch eine Neuerung. Er glaubte an den technischen Fortschritt, glaubte überhaupt noch an Wunder.
«Hat sich viel verändert», sagt Schelsky, die Kreuzung Möllendorfstraße passierend.
«Wissen Sie, Schelsky», der alte Herr deutet mit der knochigen Hand aus dem Fenster, «ich denke oft, wir sind alle einem ungeheuren Irrtum aufgesessen. Fortschritt in Technik, in Wissenschaft, in Medizin, in Politik, schön, aber wir verknüpfen mit jeder Erfindung oder Entdeckung sofort die Vorstellung von einer besseren Welt gegenüber der Vergangenheit. Ich sage Ihnen, das ist der reinste Unsinn. Diesem Fortschritt steht ein rapider moralischer Abbau gegenüber. Sittlich ist die Menschheit keinen Schritt vorangekommen. Und die bekannte Formel, die Lenin aufgestellt hat, wonach technische Entwicklung und Sozialismus zusammen die neue schöne Welt ergeben sollen, wird euch noch manche Nuß zu knacken geben. Wir haben ja gesehen, wohin technischer Fortschritt führen kann. Sagen Sie jetzt nicht; da hat auch der Sozialismus gefehlt.» Nach einer Pause: «Wir hoch entwickelten Säuger arbeiten weiter rasend an unserem Untergang, glauben Sie mir.»
Schelsky schweigt.
Der will jetzt nicht zugeben, sagt sich der alte Herr, daß er auch seinem Traum von ganz neuen, ungeahnten Möglichkeiten nachhängt, vielleicht der schwebenden Stadt. - Während der Bauzeit, entsinnt sich der alte Herr, kam Straßburger heraus und entwarf die technische Zukunft, binnen eines Jahrzehnts fahre man mit der Elektrischen kreuz und quer durch Berlin. Das Auto entwickele sich schnell, brauche große breite Bahnen. - Immer ging etwas Schläfriges von Straßburger aus, aber er, Pilgramer, kannte ihn ganz gut. Hinter der Schläfrigkeit steckte eine kaltblütige Logik, steckte der unerbittliche Rechner.
Pilgramer umschrieb damals seine Angst und seinen Vorwurf mit einer Floskel, wenn irgendwas passiere, dann sei er geliefert. Er sagte nicht, was er dachte, nie sagte er, was er dachte. Damals dachte er, der hat mich bis aufs Hemd ausgeplündert. Straßburger meinte wohl, er solle sich keine Gedanken machen, vor vierzig Jahren habe Berlin eine halbe Million Einwohner gehabt, jetzt zwei Millionen, die müßten wohnen. Der junge Baumeister Pilgramer werde ihm, Straßburger, noch einmal danken.
Danken wofür? Der Bauleiter stand früh um vier auf, um sechs war er auf der Baustelle, um siebzehn, manchmal um achtzehn Uhr verließ er sie wieder, er kontrollierte, unterschrieb Rechnungen, machte Stichproben, alle Augenblicke geschah etwas Neues.
In Alt-Stralau besaßen sie ein kleines Haus, nicht sehr gut, nicht schön, nicht wohnlich, und der kleine Fred war gerade geboren. Sie lebten ganz für sich, ohne Hilfe durch Freunde, kämpften verzweifelt ums Überleben. Rasch war die Mitgift verbraucht.
Hier wohne er also, hatte Straßburger gesagt und verlangt, mit der jungen Frau Pilgramer, Luise, bekannt gemacht zu werden.
Pilgramer, jetzt neben Schelsky, denkt, Luise war nichts zum Vorzeigen, ein schüchternes Provinzding, das etwas kochen konnte, etwas nähen, etwas Klavier spielen, das ein paar Bücher gelesen hatte und gelernt, sich unterzuordnen. Ohne Mitgift wäre Luise einfach sitzen geblieben.
«Ihre Baustellen sahen jedenfalls anders aus», bemerkt Schelsky.
«Es wimmelte von Menschen», bestätigt der alte Herr. «Heute genügen drei, vier Mann.» Er beugt sich hinüber zu Schelsky: «Aber sehen Sie, Sie bauen teurer, und Sie bauen nicht schneller: Nicht einmal schöner bauen Sie, wenn man das Zeitgefühl mit in Betracht zieht. Unsere Zeitgenossen staunten damals so, wie Ihre Zeitgenossen heute staunen.» Pilgramer fühlt sich nicht verpflichtet, alle seine Gedanken preiszugeben, Wohnmaschine bleibt Wohnmaschine. «Hätten Sie noch eine industrielle Reserve, brauchten Sie keine so hohen Investitionen. Ich weiß, industrielle Reserve bedeutet Elend, auch nur ein relativer Begriff. Um zu leben, brauchen wir nicht viel.»
Pilgramer könnte noch hinzufügen, er habe schließlich um das nackte Leben gekämpft, aber was wissen die heute davon? Straßburger riet, halten Sie durch, junger Baumeister, halten Sie auf eine anständige Art und Weise durch. Straßburger hatte es geschafft, der saß in seiner Villa in Friedrichshagen, ungefähr dort, wo die alte Spree in den Müggelsee mündet. Dort wohnte Straßburger jetzt, mit Frau und Sohn, einer Rachel oder Rahel, Sohn, Privatdozent für alte Sprachen, aufgeschossen, mit krummem Studierrücken. Und doch, fällt dem alten Herrn ein, war es ein Anfang. Straßburger spielte ihm Aufträge zu, Fassaden. Kolossale Jungfern trugen funktionslose Steinlasten auf den Schultern. Athleten schleppten Bierfässer und Füllhörner. Pilgramer entwarf Gipsrosetten und Girlanden, Erker und Türmchen, gemalten Marmor und Durchgänge, gedrechselte Geländer, buntes Glas, Pilgramer plünderte die Stilepochen für seine Entwürfe, Sakrales profanierte er, Profanes fälschte er um, und es geschah wirklich etwas Unerwartetes. Straßburger lachte zwar geringschätzig, aber er vertiefte sich in diese Zeichnungen, und er entdeckte eher als er, Pilgramer, daß man diesen Unsinn jetzt wollte, diesen billigen Krimskrams, diesen Aufwand an Stuck. Der Schein setzte sich gegen das Urbild durch. Früher war Architektur selbst eine Kunst. Man wußte, daß keine Farbe, keine Dekoration eine mißlungene Linie ändern konnte. Jetzt war das Gefühl für die Schwingung verloren gegangen. Was er, Pilgramer, als ein Witz, als Spott und Ironie gedacht, darauf begründete sich etwas Neues, nichts Gutes. Und noch etwas geschah, das Straßburger verblüffte, der Kaiser äußerte in einer Randglosse sein Wohlgefallen an dieserart Häuserfassaden. Damit waren die Pläne beschlossen und besiegelt. Pilgramer besitzt diese kaiserliche handschriftliche Notiz noch; sie kam ins Familienarchiv.
Dann wurde die evangelische junge Frau Pilgramer von dem Wunsch heimgesucht, ihren Sohn taufen zu lassen, nach römisch-katholischem Ritus. So vereinigten sich die Konfessionen am christlichen Taufwasser.
Man müsse ein bißchen Geduld aufbringen, dann gehe es auch voran. Straßburgers Rezept. Es ging wahrhaftig voran, denkt Pilgramer, neben Schelsky sitzend, der jetzt nach Mahlsdorf abbiegt. Es kamen plötzlich viele Aufträge, der Erfolg winkte, dank der kaiserlichen Randglosse.
«Ich hatte früher einen Maybach», sagt der alte Herr, «ich hatte immer schwere Wagen.»
«Maybach?»
«Das kennen Sie nicht mehr.»
Pilgramer weist Schelsky jetzt ein, das Auto hält vor der Villa. Der alte Herr steigt aus und bittet Schelsky herein.
Der alte Herr Pilgramer benutzt den Stock, trotzdem ist sein Gang nicht schwerfällig, es sieht eher aus, als brauche er den Stock gar nicht, als könne er ohne Hilfe gehen. Schelsky neben ihm; Pilgramer mag den Mann eigentlich nicht, er mag überhaupt keine dicken Männer, an deren angebliche Gemütlichkeit er nie recht glauben konnte.
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