II. Phänomene rhetorischer Gewalt in demokratischer Ordnung
1. Extremisierung
Der Begriff des politischen Extremismus 44ist zu verstehen als Antithese zum demokratischen Verfassungsstaat und seinen fundamentalen Werten und Spielregeln sowie als umfassende Bezeichnung antidemokratischer Gesinnung und Bestrebung. Bei allen Unterschieden der verschiedenen Extremismen in Menschen- und Gesellschaftsbildern, programmatischen Einzelfragen sowie strategisch-taktischen Verhaltensweisen zeigen sich jedoch vielerlei Gemeinsamkeiten. Extremistisches Denken offenbart sich zunächst in der Ablehnung demokratischer Grundordnung und ihrer wesentlichen Elemente wie Gewaltenteilung, Mehrheits- und Repräsentationsprinzip, Anerkennung der fundamentalen Gleichheit aller Menschen, Schutz der Menschen- und Freiheitsrechte der Bürger, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltmonopol des Staates. Der Anspruch, die alleinige Wahrheit zu besitzen und damit das Recht, als richtig erkannte Ziele kompromisslos zu verfolgen, verträgt sich nicht mit politischem und gesellschaftlichem Pluralismus der Überzeugungen mehrerer politischer Parteien und vieler einflussnehmender politischer Gruppierungen. Extremistisches Denken zeichnet sich zumeist aus durch einige ideologische Grundvorstellungen, denen zur Weltinterpretation und Problemlösung große Bedeutung beigemessen wird.
Die wesentlichen Merkmale für Extremismus sind folgende:
Anspruch von Weltanschauungen und Wertvorstellungen, als allein wahr zu gelten; grundlegende normative Meinungen, deren Wahrheitsanspruch als unumstößlich festgestellt wird; Dogmatisierung und Indoktrination als zentrale Kennzeichen; keine Zulassung von Widerspruch und Diskurs;
Verabsolutierung der Zugehörigkeit zu einer geglaubten Gemeinschaft eines Volkes, einer Nation, einer Rasse, Klasse, Ethnie, einer Religionsgruppe; Vereindeutigung der gesellschaftlichen Zugehörigkeit zugunsten einer einzelnen Gemeinschaft;
dichotome, polarisierte Weltanschauung, klare Differenzierung zwischen guter Eigen- und böser Fremdgruppe; große moralische Überlegenheit der eigenen Lehre und Gemeinschaft; Idee des Auserwähltseins; keine Zulassung von Kompromissen;
Auseinandersetzung mit Gegnern in Freund-Feind-Begriffen; Bedrohung Andersdenkender mit radikaler Ablehnung, Diskriminierung, Ausgrenzung, mit Hass, zum Teil auch Gewalt, bisweilen sogar mit Vernichtung und Tod;
aggressiver Kampf für die eigenen „hehren“ Ziele und die eigene Sendung; nicht selten Vorstellung eines Kampfes auf Leben und Tod, Bereitschaft zu Opfern, um angebliche Angriffe abzuwehren und Verschwörungen wirksam zu begegnen;
Enthusiasmus für geradezu „heilige“ Zukunftsaufgaben, der „befreiten Nation“, der „Herrschaft der überlegenen Rasse“, der „klassenlosen Gesellschaft“, der „Umma“, eines Kalifats etc.
Die Stereotypen der Auseinandersetzung mit pluralistisch-demokratischen Systemen beziehen sich vor allem auf die Ablehnung parlamentarischer Prozesse, die den „Volkswillen“ verfälschten, auf „bürgerliche“ Demokraten, die im Interessenwirrwarr verantwortungsloser Repräsentanten das Gemeinwohl mit Füßen träten, auf Massenmedien, die die öffentliche Meinung manipulierten, auf eine Demokratie als Ausgeburt des Lasters, des Sittenverfalls, der kulturellen Dekadenz.
Allerdings bekennen sich extremistische Personen und Organisationen in demokratischer Ordnung, so sie große Zustimmung erfährt unter der Bevölkerung, in der Regel nicht offen zu ihren Einstellungen und wahren Absichten, sie verstecken vielmehr ihre Ziele hinter plakativen Parolen für die demokratische Verfassung und passen ihre Diktion demokratischen Formen und Formeln an. Insbesondere ist die offizielle Programmatik oft von politischer Mimikry geprägt, und vielfach tarnt man sich durch Mitwirkung und Einflussnahme in demokratischen Organisationen und Bewegungen.
Der Unkultur des politischen Extremismus zur Zerstörung des Grundkonsenses haben Demokraten mit einer Umgangs- und Kommunikationskultur zu begegnen, die abstellt auf die Bestimmtheit der eigenen Position, die kategorische Ablehnung extremistischen Denkens und einen klugen Umgang mit den Feinden der Demokratie. Welche Elemente sollten zu einer solchen Rhetorikkultur wehrhafter Demokraten hinzugehören? Hier seien einige wichtige Grundsätze genannt:
Kampf der Politik und großer gesellschaftlicher Institutionen und Organisationen gegen Missachtung, Verhöhnung und Zerstörung von Elementarwerten des Rechtsstaates und der Demokratie;
Verteidigung des grundsätzlich universellen Geltungsanspruchs der allgemeinen Grund- und Menschenrechte; Argumentation gegen falsche Demokratieverständnisse 45;
Pflege lebendiger Geschichtserinnerung, insbesondere an Nationalsozialismus und Kommunismus in Deutschland, mit dem Ziel, jedwedem Extremismus Einhalt zu gebieten und die historisch begründete Verpflichtung zu vermitteln, den Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte zu gewährleisten;
Entlarvung demokratischer Mimikry extremer Gruppen in öffentlichem Verhalten und die Enttarnung extremistischen Handelns im Verborgenen;
Zurückweisung angeblicher edler Motive und Gedanken der Extremisten (Befreiung von Unterdrückung, Fundamentaldemokratisierung der Gesellschaft, Schutz der Umwelt, Sicherung des inneren und äußeren Friedens) und Herausstellung des blinden Hasses der Extremisten, ihrer Gewaltbereitschaft, ihrer Selbstüberschätzung, ihres Wahns, brutal Menschen opfern zu dürfen für eine angeblich gute Sache;
Bekämpfung aller Formen von Extremismus, sowohl von rechts wie von links, denn beiden Extremismen ist gemeinsam, dass sie wesentliche Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates in Frage stellen;
Ablehnung einer öffentlichen Diskussion über die Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen; keine Nachsicht gegenüber jenen, die sich anmaßen, für sich und ihre Gewalt rechtsfreie Räume schaffen zu wollen;
Bekämpfung des Extremismus- und Gewaltvorwurfs gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat, der strukturelle Gewalt ausübe, gegen den ein Widerstandsrecht gegeben sei, da er „politische Gefangene“ halte und diese zu Opfern staatlicher Rache mache etc. „Dieser Staat brauchte und braucht wieder fast nichts so sehnsüchtig wie den 'Terror', den Schrecken. Er braucht ihn, um von seiner eigenen tagtäglichen Gewalt abzulenken“ (Jutta Ditfurth) 46;
Vermeidung einer öffentlichen Diskussion (z. B. über Ausländer- und Asylpolitik), die Extremismus geradezu herausfordert und Extremisten in ihrem Denken bestärkt und dazu beiträgt, dass extremistische Personen und Gruppen sich nicht isoliert fühlen; zu denken ist hier vor allem an unsensible und hassfördernde Semantik, beispielsweise in Form pauschalisierender, verunglimpfender und dramatisierender Begriffe wie Asylanten, Wirtschaftsasylanten, Asyltouristen, Scheinasylanten, Asylschwemme, volles Boot 47; weiterhin an unangemessene Euphemismen für moderne Gewalt wie beispielsweise Krawall, Ausschreitungen; an Instrumentalisierungen von vorhandenen Gewaltakten (z. B. gegen Asylbewerber und Ausländer schlechthin) für politische Forderungen (z. B. eine Reform des Asylrechts), aber auch an moralisierendes, bisweilen geradezu gesinnungsethisches Hintertreiben von notwendigen Reformen (z. B. im Asylrecht), was einen vernünftigen Diskurs unter Demokraten erschwert und zur Eindämmung von Extremismus und Gewalt nicht beiträgt;
bei aller Differenzierung nach der Identifikation mit dem Extremismus (zuschauender Biedermann mit gewissem Teil-Einverständnis gegenüber extremistischen Zielen und Aktionen, Protestmitglieder bzw. –wähler, mehr oder weniger zustimmende Sympathisanten bzw. Gruppenmitglieder, überzeugte Aktivisten, ideologische Brandstifter, Gewalttäter mit oder ohne ausgeprägte Ideologie) keine Relativierung der Gefahren extremistischen Denkens, sondern eindeutige Verurteilung des Extremismus und Werbung für alle grundlegenden Prinzipien rechtsstaatlich-demokratischer Verfassung;
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