Donatella Di Cesare - Von der politischen Berufung der Philosophie

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Während in der vollends globalisierten, kapitalisierten und integrierten Welt ohne Außen Krise auf Krise folgt und menschenfeindliche Positionen immer mehr Raum gewinnen, verhält die Philosophie sich eigentümlich konformistisch: In Ethikkommissionen stellt sie hier und da eine zaghafte Empfehlung moralischer Angemessenheit aus und bescheidet sich ansonsten damit, das Bestehende intellektuell mitzuverwalten. In ihrer ebenso leidenschaftlichen wie scharfsinnigen Abhandlung ruft Donatella Di Cesare die Philosophie dazu auf, sich wieder ins politische Handgemenge zu begeben und in die Stadt, die globale Polis, zurückzukehren, aus der sie nach dem Tod des Sokrates vertrieben worden war. Getragen von radikalem Existenzialismus und einem neuen Anarchismus zeigt sie, dass in die abendländische Philosophie seit ihrem antiken Anfang eine politische Berufung eingeschrieben war, deren Verdrängung sie um ihr Wertvollstes, um ihre aufklärerische Potenz, bringt. Doch Kritik und Dissens allein reichen nicht mehr aus. Der Niederlage des Exils, der inneren Emigration eingedenk kehren die Philosophen jetzt zurück, um ein Bündnis mit den Unterdrückten zu schmieden. Ein fulminantes Plädoyer für die politische Relevanz der Philosophie, ihre radikale Zeitgenossenschaft und ihre atopische Widerstandskraft.

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Donatella Di Cesare

Von der politischen Berufung der Philosophie

Aus dem Italienischen von Daniel Creutz

Die Philosophie soll nicht prophezeien, aber sie soll auch nicht schlafen .

Martin Heidegger

Und so wird uns und euch die Polis wachend verwaltet werden und nicht träumend .

Platon

Wir verwirklichen uns nie. Wir sind zwei Abgründe – ein Brunnen, der in den Himmel schaut .

Fernando Pessoa

Inhalt

Die gesättigte Immanenz des Globus

Heraklit, das Wachen und der ursprüngliche Kommunismus

Lichtnarkose: Von der Nacht des Kapitals

Zur polis berufen

Staunen: Eine unruhige Leidenschaft

Zwischen Himmeln und Abgründen

Die Atopie des Sokrates

Ein politischer Tod

Platon: Als die Philosophie in der Stadt ins Exil ging

Migranten des Denkens

»Was ist Philosophie?«

Radikale Fragen

Der Außer-Ort der Metaphysik

Dissens und Kritik

Das 20. Jahrhundert: Zäsuren und Traumata

Nach Heidegger

Gegen Unterhändler und normative Philosophen

Ancilla democratiae : Eine traurige Rückkehr

Poetik der Klarheit

Kraftvolle Prophezeiungen des Sprunges: Marx und Kierkegaard

Die Ekstase der Existenz

Für eine Exophilie

Philosophie des Erwachens

Gefallene Engel und Lumpensammler

Anarchische Nachschrift

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Die gesättigte Immanenz des Globus

Es gibt kein Außen mehr. So präsentiert sich das letzte Stadium der Globalisierung. Bis zur Moderne dachten die Bewohner des irdischen Gestirns bewundernd, staunend und erschüttert über den Kosmos nach und richteten ihre Augen in den offenen Himmel. Jenes unermessliche Gewölbe bot ihnen gleichwohl Schutz, schirmte es sie doch gegen die absolute Äußerlichkeit ab, der sie sich ausgesetzt sahen. Als der Planet jedoch von vorne bis hinten erkundet – umrundet, besetzt, vernetzt, vor- und dargestellt – war, brach der kosmische Himmel auf, und es eröffnete sich ihnen: der Abgrund. Ihr Blick verlor sich im eisigen Außen. Die Herausforderung war ohne Beispiel. Die Entdeckung des Globus erscheint daher als die Geschichte einer »raumpolitischen Entäußerung«. 1Das Äußere übte eine magnetische Anziehungskraft aus, es zog an und stieß zugleich ab, wobei es die Alterität zu reduzieren, zu beherrschen und zu kontrollieren galt. Auch zu jener Zeit fehlte es dafür nicht an philosophischen Modellen. An die Stelle des kosmischspekulativen Universums, das Mutmaßungen, Intuitionen und Ideen über lange Zeit hinweg angeregt hatte, trat die kopernikanische Revolution, dank derer – während auch noch die äußersten Grenzen eine nach der anderen eingerissen wurden – mit Nachdruck der Anthropozentrismus proklamiert werden konnte. Das umherirrende Gestirn folgte dieser Bahn über Jahrhunderte hinweg in verwickelten Rotations- und Schwingungsbewegungen, ohne jedoch seinem Schicksal zu entgehen.

Bei Anbruch des dritten Jahrtausends kann die Globalisierung als vollendet gelten. Sie präsentiert sich als Resultat eines ununterbrochenen, von der treibenden Kraft der Welt geführten Monologes, einer höheren Gewalt, die unmöglich zum Stillstand zu bringen ist, als handele es sich um die Vernunft selbst. Jedwede kritische Instanz erwiese sich damit als überflüssig. Man stellt Analysen über die globale Situation an. Mehr aber auch nicht. Zum ersten Mal scheint die Philosophie vom Axiom der Aktualität überrollt zu werden.

Wie kann es in einer Welt ohne Außen noch Philosophie geben? Einer sorgfältigen Diagnose erscheint die ontologische Ordnung des Globus als diejenige einer gesättigten Immanenz, wobei Immanenz hier im etymologischen Sinne dessen zu verstehen ist, was bleibt, was in sich verbleibt, stets Innen, ohne Außen, ohne Äußerlichkeit. Es handelt sich um eine statische und verdichtete Immanenz: Weder gibt es Einschnitte noch Lücken, Fluchten oder Auswege. Die Sättigung ist eine räumlich-zeitliche. Das mag eventuell überraschen: Leben wir nicht vielmehr in einer Welt der absoluten Flüsse: des Kapitals, der Technik, der Medien? Information, Fusion und Dichte folgen dem hektischen Herzschlag einer schwindelerregenden Beschleunigung. Und das alles natürlich im Zeichen des unweigerlichen Fortschritts. Damit wird jedoch nur der Anschein einer Welt getroffen, die vollkommen im ökonomischen Strudel der Zeit eingeschlossen ist und deren Wesen paradoxerweise auf Geschwindigkeit beruht. 2Die Flüsse des globalen Netzwerkes beschreiben die immer gleichen Umlaufbahnen und folgen einer Wiederholungsbewegung, die in sich identisch bleibt. Nicht, dass es an chaotischen Spiralen und aufrührerischen Strudeln fehlen würde – aber sie stören den konstanten Rhythmus jener absoluten Flüsse nicht, die unerschütterlich geschlossen und insgeheim unbeweglich bleiben. Schnelligkeit wird zum Stillstand, Beschleunigung endet in Trägheit, wie auf einem Laufband, auf dem man stets weiter vorwärts rennt, um nicht zurückzubleiben. Alles ändert sich – aber im Grunde ändert sich nichts wirklich. Träg-verharrende Veränderung ist das Signum des synchronisierten Globus.

Die gesättigte Immanenz zeigt die erstickende Gegenwart einer Welt an, die im Glauben an das Unversehrte verlangt, sich gegen das »Außen« zu immunisieren. 3Daher hat sie alles, was anders ist als sie selbst, aufgesaugt, verbannt und zerstört, gesteuert von einem übermächtigen immunologischen Trieb: unversehrt bleiben, unverletzt und unbeschädigt ausharren. Alle negativen Mächte wurden aufgeboten, um der vitalen Negativität entgegenzuwirken, um jedweder Wandlung zuvorzukommen, jede Veränderung abzuwenden, allen Verlust zu neutralisieren. Obgleich der immunologische Trieb auch in der Vergangenheit keineswegs vollkommen abwesend war, hat er heute insbesondere durch die Technik bislang unbekannte Formen angenommen. 4Der Globus der absoluten Flüsse in gesättigter Immanenz ist das monumentale Ergebnis jenes Triebes.

Wozu sich noch in das eisige und tote Jenseits hinauswagen? Es triumphiert die Exophobie, eine abgründige Angst, eine kalte Panik, das nackte Entsetzen vor dem, was äußerlich ist. Diese Angst ergreift auch das Denken und hält es gefangen. Wie lässt sich überhaupt noch eine Alternative denken? Jede Distanznahme, jede Unterbrechung gilt – noch bevor sie als terroristische Tat angeprangert wird – als Ding der Unmöglichkeit. Nur im Inneren lässt sich träumen, unter der Herrschaft der gesättigten Immanenz, in der die Träume nicht selten in Albträume umschlagen. »Es gibt kein Außen mehr«, das ist die bittere Feststellung, die das radikalste Denken der letzten Jahre durchzieht. 5Auf diese Weise ist der hyperrealistische Refrain »There is no alternative!«, jene höhnische und traurige Summa des gegenwärtigen Zeitalters, schließlich zu einer schonungslosen Prophezeiung geworden, die sich nur unaufhörlich bewahrheiten kann.

Es ist kein Geheimnis mehr, dass die Reden vom »Ende der Welt« ernst zu nehmen sind. 6Diese werden vor allem von den empirischen Wissenschaften unterfüttert: von Klimatologie, Geophysik, Ozeanografie und Ökologie. Die Menschheit scheint geradewegs und unmittelbar auf die Katastrophe zuzusteuern. Die nahe Zukunft – unvorhersehbar, weil vollkommen anders – wird den Szenarien der Science-Fiction oder messianischen Visionen überantwortet. Der prometheische Schrei droht in einem apokalyptischen Röcheln zu ersticken. Zumindest eines ist klar: Die Welt des Spätkapitalismus ist die des planetarischen ökologischen Kollapses. Die Verschmelzung von Technoökonomie und Biosphäre vollzieht sich vor den Augen aller. 7Das Erdzeitalter, in dem die Menschen beinahe machtlos die verheerenden und todbringenden Ergebnisse jener asymmetrischen Verschmelzung betrachten, mit der die Natur bis hin zu ihrem Verschwinden erodiert wurde, ist heute unter dem Namen Anthropozän bekannt. Doch die Heftigkeit und Gewalt des menschlichen Eingriffs wäre ohne die unerbittliche und glühende Souveränität des Kapitals nicht möglich gewesen. Und dennoch scheint es der zeitgenössischen Vorstellung leichter zu fallen, sich das Ende der Welt auszumalen, als das Ende des Kapitalismus zu denken. Darin zeigt sich die ungeheuer große Kluft zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Ohnmacht. Zu diesem Zeitpunkt besetzt der Kapitalismus bereits den gesamten Horizont des Denkbaren. Dies wurde möglich, indem er noch jeden Herd eines Widerstands der Imagination aufzehrte sowie jedwedes ihm Äußerliche, das vor oder nach seiner Geschichte liegen mag, auslöschte: vor ihm nur düster Archaisches, nach ihm nichts anderes als die Finsternis der Apokalypse.

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