1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Durch Ottos Tod hatte er die Verabredung mit Lena verpasst. Als er zur gewohnten Parkbank kam, war sie nicht mehr da. Ein unwiderstehlicher Drang, jetzt bei ihr zu sein, trieb ihn zu ihrer Wohnung. Sie war nicht zu Hause. Er wurde unruhig, wo mochte sie sein? Es gab einen Spielplatz vor dem Wohnkomplex, mit Bänken. Kinder tollten herum, beobachtet von ihren Müttern. Karl setzte sich auf einen Mauervorsprung in der Nähe des Eingangs zum Wohnsilo. Er dachte an Otto Krämer, den es nicht mehr gab und dessen Reste in der düsteren Kapelle lagen. Es war schrecklich, grausam und so beschissen sinnlos. Alle Gefühle der letzten Tage, ein Brei von hässlichen, unschönen Erlebnissen und als Krönung der Tod. Das ließ Karl deutlich werden wie dünn das Eis war, auf dem er stand. Er hatte noch die Tüte mit dem Obst in der Hand. Er wollte nicht mehr über das Obst an den Toten erinnert werden und warf die Tüte samt Inhalt in den nächsten Abfalleimer.
Endlich kam Lena, sie hatte eingekauft. Karl ging ihr entgegen und nahm ihr die schwere Tasche ab.
„Wartest du schon lange?“, fragte sie und gab ihm einen Kuss.
„Du machst irgendwie einen verstörten Eindruck“, stellte sie fest und sah Karl aufmerksam von der Seite an.
„Ach, ich hatte ein trauriges Erlebnis, aber lass uns erst nach oben gehen.“
Lena packte den Einkauf aus, machte Kaffee und setzte sich zu Karl ins Wohnzimmer. Er konnte ihr all das sagen, was er loswerden musste. Er redete und redete. Lena unterbrach ihn nicht. Sie spürte sein Verlangen, diese unschönen Dinge raus zu lassen. Sie nahm ihn in den Arm und tröstete ihn.
„Karl, der Tod gehört zum Leben, es ist eine Binsenweisheit, ich weiß. Ich habe im Krankenhaus viele Menschen, soweit ich das konnte, auf ihren letzten Gang begleitet. Dieser letzte Akt wird nie zur Routine. Er hat immer sein eigenes Gesicht. Es gab die, die nicht begreifen wollen, dass sie gehen müssen. Die, voller Mitleid mit sich selbst, die nicht verstehen wollen, dass das Leben ohne sie weiter geht und die, die mit Arroganz dem Tode begegnen und auch die, die froh waren endlich sterben zu dürfen.“
Sie machte eine lange Pause, sie hatte Tränen in den Augen.
„Alle waren am Ende ganz ruhig, ganz gelöst, jenseits von Gut und Böse.“
Karl hatte zugehört, er begriff, Leben war vielseitig, es schaffte Situationen, die man nicht nachempfinden konnte. Der Alkohol hatte Otto zerstört und in den Abgrund gezogen. Sie saßen noch eine Weile ohne Licht, die Dämmerung beherrschte den Raum, bis die Dunkelheit kam und Lena Licht einschaltete. Karl sah, dass sein Schlafsack verschwunden war und er mit einem lieben Mädchen, für ihr Alter schon sehr erwachsen, in einem Bett schlafen durfte. Es war keine große Leidenschaft, das gab das Tagesgeschehen nicht her, aber eine Zweisamkeit und das Gefühl zusammen zu gehören.
Karl war allein, Lena war zur Arbeit. Sie hatte einen kleinen Zettel auf den Tisch gelegt und ihn gebeten die Blumen auf dem Balkon zu gießen.
„ Hab dich lieb“ , stand auf dem Zettel. Karl las ihn lächelnd immer wieder, faltete ihn sorgsam zusammen und deponierte ihn in einer Lade, wo er meinte, dass er dort gut aufgehoben sei. Nach dem Frühstück saß er auf dem Balkon.
Um eine Anmeldung im Meldeamt zu erreichen, hatte er die Adresse des Männerheims angegeben. Lenas Adresse kam nicht in Frage; er wollte kein Problem mit der Wohnungsgesellschaft. Am Männerheim fragte er nach möglicher Post. An der Pforte bekam er einen Brief vom Arbeitsamt. Es war ein Arbeitsangebot. Eine Verleihfirma stellte einer Produktionsfirma Arbeiter zur Verfügung. Karl sollte als Hilfskraft einen personellen Engpass abdecken. Der Maschinenbaubetrieb lag in einem neuen Industriegebiet vor der Stadt. Das Büro des Verleihers befand sich allerdings im Zentrum. Er fand es nicht so toll, als Hilfsarbeiter seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er wollte gerade gehen, da sagte ihm der Mann hinter der Scheibe, dass der Sozialarbeiter des Hauses ihn sprechen wolle. Karl fragte verwundert: „Ist Frau Dietz nicht im Haus?“
„Frau Dietz hat Urlaub, Herr Koch hat ihre Vertretung übernommen.“
Im Haus regierte die Putzkolonne. Trotz der täglichen Reinigung der Flure und Toiletten war der säuerliche Geruch von Armut nicht zu beseitigen. Er klopfte beim Sozialdienst. Dort saß ein älterer Typ im karierten Hemd und brauner Strickkrawatte, die er bei dem dicken Hals gelockert hatte. Der Schreibtisch war leer, als wolle er jedem Besucher sagen, ich bin nur die Vertretung und möchte keine Probleme aufgehalst bekommen. Er bot keinen Platz an.
„Ich habe Sie her beordert, weil Sie hier gemeldet sind aber nicht hier wohnen. So geht das nicht!“
Karl wusste sofort, mit diesem Zeitgenossen gab es Ärger, er stellte sich auf Konfrontation ein.
„Wo ich tatsächlich wohne oder mich aufhalte geht Sie einen Scheißdreck an. Sie wissen so gut wie ich, dass man in diesem stinkenden Loch nicht wohnen kann.“
Der Sozialmensch war kurz irritiert aber dann meinte er etwas sagen zu müssen.
„Sie haben hier um Hilfe nachgesucht und Hilfe bekommen.“
Karl unterbrach ihn: „Von Ihnen habe ich gar nichts bekommen.“
„Ich verbiete Ihnen, in diesem Ton mit mir zu reden!“
„Sie können mir gar nichts verbieten, Sie Pausenclown!“
Das war´s dann wohl, dachte Karl und wollte gehen.
„Einen Moment“, der Typ stand auf, stützte sich mit beiden Händen am Schreibtisch ab und schrie: „Mit Leuten wie Ihnen werden wir fertig, dass dürfen Sie mir glauben. Ihre Post wird ab sofort nicht mehr angenommen. Ich werde der Polizei, was Ihre amtliche Anmeldung anbelangt, den Sachverhalt melden. Zudem haben Sie ab sofort dauerhaftes, absolutes Hausverbot.“
Karl drehte sich um und verließ den Raum. An der Pforte fragte er nach dem Zeitpunkt der Beisetzung von Otto. Er wollte doch gern dabei sein. Aber der Mann hinter der Glasscheibe wusste von nichts. Das hier ein Bewohner verstorben war, ging ihm am Arsch vorbei. Karl war verbittert, wer hier wohnt ist ein Niemand. Wie das mit seiner Anmeldung weiter gehen sollte, wusste er nicht. Ich komme aus diesem Dunstkreis von Hilfsbedürftigkeit nicht heraus, dachte er.
Der Wind hatte aufgefrischt und schob Papierfetzen über die Straße. Es würde wohl Regen geben. Karl machte sich auf den Heimweg. Lena würde sicher schon warten.
„Mein Gott, ist das schön, nach Hause zu kommen“, sagte er, um gleich die Frage zu stellen: „Ist das auch wirklich mein zu Hause?“
Lena war in der Küche und rief: „Ich teile mit dir Tisch und Bett und ich denke, dann ist das auch dein zu Hause. Einen nackten Beischläfer brauche ich nicht. Das ist mir zu wenig.“
„Du hast ja Recht, aber wenn ich sehe, wie Menschen, die einen Neuanfang wollen, mit Dreck beworfen werden, dann entsteht Wut und Hass auf die Hohlköpfe, die sich ausdenken, was nur ihnen nutzt.“
Er erzählte ihr die Story aus dem Männerheim.
„Ich kenne diesen Koch, er gehört noch zu denen die meinen, ein Bett und einen Kanten Brot und das war es. Resozialisierung ist für Ihn ein böhmisches Dorf. Ein Arsch wie Koch ist ein Bremsklotz in der sozialen Arbeit. Der denkt nur noch an seine Rente.“
Karl zeigte ihr das Arbeitsangebot. Sie las es durch und rümpfte die Nase.
„Was hat man sich da einfallen lassen? Ich verleihe einen Menschen als Arbeitskraft an eine Firma. Was sind das nur für seltsame Methoden. Das Arbeitsamt verbessert seine Statistik, der Verleiher macht ein gutes Geschäft, er verdient am Unglück anderer. Die Firma zahlt eine Pauschale an den Verleiher ohne sich um Sozialbeiträge zu kümmern. Wird der Mann nicht mehr gebraucht, schmeißt man ihn raus.“
Lena hatte sich in Rage geredet und Karl wunderte sich über ihren Gefühlsausbruch.
„Ja, ja, einige landen dann im Männerheim. Lena, du und ich können nichts daran ändern.“
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