Michael Blaschke - Wende auf Russisch

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Anfang der neunziger Jahre, nach dem Zusammenbruch der Ostblockstaaten, versuchten viele Menschen im westlichen Ausland ihr Glück zu machen. Mit guten und oft auch mit bösen Absichten. Einige verschlug es nach Berlin, doch mangelnde Sprachkenntnisse und fehlende Qualifikation lassen sie in Kreise der russischen Unterwelt abgleiten. Um zu überleben, werden sie kriminell, mit Korruption, Prostitution, Schwarzgeld, Erpressung und Falschgeld. Mafiöse Strukturen wollen die «Neuen» nicht in ihren Kreisen. Sie werden ausgenutzt, um im Ausland Mädchen anzuheuern, die dann in Deutschland brutal zur Prostitution gezwungen werden sollen. Das läuft nicht immer glatt. Einige bezahlen mit ihrem Leben, andere gehen enttäuscht und mit leeren Taschen wieder zurück in ihre Heimat. So zerschlägt sich der Traum vom schnellen Geld.

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Michael Blaschke

Wende auf Russisch

© Dirk-Laker-Verlag, Bielefeld

Dirk Laker

Autor: Michael Blaschke

Alle Rechte vorbehalten

Werner Gruber wurde in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren.

Er war der Stammhalter, er genoss das besondere Interesse seiner Eltern. Der zweite Sohn, Eugen, wurde in seiner Kindheit und Jugend oft benachteiligt. Er litt unter seinem Namen, der so gar nicht mehr in die Zeit passte. Die Eltern waren sehr konservativ eingestellt. Das wirkte sich auf die gesamte Erziehung aus. Der Vater war Ingenieur und hatte in einen mittelständischen Betrieb eingeheiratet, das Unternehmen vergrößert und profitabler gemacht. Seine Schwiegereltern waren von ihm angetan und für die Tochter war er die große Liebe. Oberflächlich gesehen war es für alle die ideale Verbindung, aber eben nur oberflächlich.

Die Mutter war eine zarte Person, im Wesen sehr zurückhaltend. Sie sah die Dinge eher kritisch. Ihr Lebensstil war anspruchsvoll. Auf dem humanistischen Gymnasium hatte sie die Welt der Muse entdeckt und wollte Kunstgeschichte studieren. Durch ihre Heirat und die Geburt ihrer Söhne, verschob sie das Studium auf einen späteren Zeitpunkt. Es blieb dabei. Sie beschäftigte eine tüchtige Kinderfrau und zwei Haushaltshilfen, doch meinte sie, die Erziehung ihrer Kinder nicht gänzlich aus der Hand zu geben.

Die Familie lebte in einem herrschaftlichen Anwesen oberhalb der Stadt. Mit den Jahren hatten auch andere Bürger einen Platz in dieser bevorzugten Wohnlage gefunden. So entwickelte sich ein Viertel gut situierter, finanziell einflussreicher Bürger. Die Grubers, alleinige Inhaber eines metallverarbeitenden Betriebes, galten als die reichsten Bürger dieser verschlafenen, schwäbischen Stadt. Die Villa, ein feudaler weißer Bau, war nicht nur Wohnsitz, sondern diente auch zur Repräsentation. Sie lebten gut und gediegen, sie protzten nicht mit ihrem Reichtum. Bernd Gruber hatte es anfangs nicht leicht, notwendige Veränderungen durchzusetzen. Der gesundheitlich angeschlagene Schwiegervater übergab ihm die Firma und er nutzte die Chance, um den Betrieb zu modernisieren.

Seine Frau Brigitte interessierte sich nicht für das Geschäftliche. Das Personal kümmerte sich um den Haushalt und sie um die Erziehung der Kinder. Der ältere Sohn Werner entwickelte sich nicht so, wie die Eltern es erwarteten. Er war klein, mit schmalen Gliedern und einem mädchenhaften Gesicht. Er versuchte es mit übertriebenem, männlichen Gehabe auszugleichen. Zweifellos kam er nach seiner Mutter.

Für die Familie wurde die Zeit der Pubertät zu einem Problem. Er schleppte sich durch die Schulzeit, nur seine überdurchschnittliche Intelligenz half ihm, bei aller Faulheit, das Abitur zu schaffen.

Eugen war das krasse Gegenteil. Schwergewichtig, ja grobschlächtig schob er sich durch die Jahre. Obwohl er körperlich einem Holzfäller glich, war er von einer Sensibilität, die ihm schon als Kind eine sehr gefühlsbetonte Sicht der Dinge erlaubte.

Die beiden Brüder verstanden sich trotz ihrer verschiedenen Charaktere sehr gut. Die Mutter hatte immer darauf geachtet, dass niemand bevorzugt wurde. Der Vater war die absolute Respektsperson, was er sagte, oder besser befahl war Gesetz und wurde befolgt. Dieses Verhalten erlaubte keinen emotionalen Spielraum. Das Korsett der Gefühle war eng geschnallt.

2.

Die Jahre vergingen, aus den Kindern waren junge Männer geworden. Ein Ereignis, das ihnen sehr nahe ging, verursachte einen Riss in der Familie. Die Mutter war nach kurzer Leidenszeit an Krebs verstorben. Das sorglose Leben, ohne materielle Entbehrungen im Schutz der Familie, hatte sich verändert. Tage nach der Beerdigung bat der Vater seine Söhne ins Herrenzimmer, um die Zukunft der Familie zu besprechen. Sie hatten es sich bequem gemacht und warteten auf den Vater. Der Raum wurde von einer langen Bücherwand beherrscht, mit mächtigen, ledernen, antiquiert wirkenden Sitzgelegenheiten. Da hatten sie sich selten aufgehalten. Kalter Zigarrenrauch lastete auf den übrigen Gegenständen. Jagdtrophäen schmückten eine ganze Zimmerbreite, in einer Ecke stand ein eingestaubtes Klavier. Die beiden jungen Männer erinnerten sich noch gut daran, wenn der Vater seine Männerriege einmal im Monat einlud, oft Herren aus Kultur und Wirtschaft, was sich natürlich auf die Möglichkeit einer proviziellen Kleinstadt bezog. Für Bernd Gruber war das ein Versuch, einflussreich in den verschiedenen Gremien mitzuwirken. Für die jungen Leute waren das Relikte vergangener Zeiten. Nach dem Tod der Schwiegereltern ließen diese feuchten Geselligkeiten nach und nun, nach dem Tod seiner Frau, war daran nicht mehr zu denken. Sein Ehrgeiz war nicht mehr nötig und auch nicht erwünscht. Zudem machte ihm seine Gesundheit Probleme. Er hatte, im wahrsten Sinne des Wortes, Haare lassen müssen. Hager und leicht gebeugt kam er und setzte sich zu seinen Kindern. Ein Hausmädchen brachte Kaffee und Gebäck und verließ geräuschlos das Zimmer.

„Ich habe Euch hierher gebeten, um Grundsätzliches für die Familie und unsere Zukunft zu erörtern. Nach der schmerzlichen Zeit, die hinter uns liegt, dem Verlust eurer Mutter, denke ich daran, kürzer zu treten. Der wirtschaftliche Erfolg kann nicht alles sein. Man ist dem Schicksal ausgeliefert, dreht sich hilflos im Kreis und findet keinen Ausweg. Ich werde mich aus dem Betieb zurückziehen.Ich weiß die Fabrik in guten Händen. Beide habt Ihr euren Abschluss in der Tasche und ich frage euch, was wollt Ihr machen?“

Es entstand eine längere Pause, die beide nutzten, um sich mit ihrem Kaffee zu beschäftigen. Bernd Gruber sah seine Söhne fragend an und wartete auf Antwort. Der Ältere gab sich einen Ruck und sagte: „Auf ein Studium habe ich keine Lust, ich denke an eine kaufmännische Ausbildung.“

„Warum nicht“, meinte sein Vater und wandte sich an Eugen, der mit seinen großen Händen die kleine Kaffeetasse behutsam zum Mund führte, als habe er Angst, sie fallen zu lassen.

„Ja, Vater, ich möchte Jura studieren, dieses Fach hat immer Zukunft.“

„Sicher, sicher“, der Alte war vom Entschluss seines Jüngsten über alle Maßen angetan.

Endlich einen Akademiker in der Familie zu haben, war schon immer seine Hoffnung und dann noch einen Juristen. Er glaubte Ärzte und Juristen hätten einen besonderen Stellenwert in der Gesellschaft. Dass das elitäre Getue von einigen dieser Berufsgruppe zum Himmel stank, wusste er, doch es störte ihn nicht. Seine verstorbene Frau Brigitte hätte sich über die Söhne gefreut und sicher ihre Berufswünsche unterstützt. Werner sah zum Vater: „Ich möchte gerne meine Ausbildung in unserem Betrieb machen. Was meinst Du, Vater?“

„Ja, ja, mein Junge. Du hast den Arbeitsplatz vor der Tür und bist hier bestens aufgehoben.“

Eugen hielt sich etwas zurück. Seit dem Tod der Mutter war er ruhiger und besonnener geworden. Seine impulsive, humorige Art, die ihn bei den Mitschülern so beliebt machte, war einer Ruhe und Nachdenklichkeit gewichen. Er hatte ein besonders inniges Verhältnis zur Mutter gehabt. Oft gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem Vater. Der meinte, er sei äußerlich aus der Art geschlagen, während sein Bruder den Vater nicht verleugnen konnte. Eugen hatte immer wieder Meinungsverschiedenheiten mit dem Vater, er konnte sich das nicht erklären. In letzter Zeit hatte das nachgelassen und er ging ihm oft aus dem Weg. In der Familie waren die Reibereien nichts Ungewöhnliches.

3.

Die Jahre vergingen, Bernd Gruber hatte wieder geheiratet, doch die Ehe ging schief. Die Söhne hatten die Stiefmutter als neue Frau nicht akzeptiert. Nach der Scheidung sahen es alle als eine Episode, die keine tiefen Spuren hinterließ. Eugen studierte in Heidelberg und Werner hatte seine Ausbildung mit Erfolg abgeschlossen. Der alte Gruber kümmerte sich zwar noch um die Firma, so gut er konnte, aber sein Interesse ließ nach.

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