Bedrückt und traurig ging er nach Hause. Lena war schon da und machte Essen, das gab Karl das Gefühl, dass sich nichts geändert hätte. Er erzählte ihr seinen Tag und sie fand es gut, dass er das Grab von Otto besucht hatte. Sie aßen schweigend, bis Lena sagte: „Es ist ein Brief für dich da.“
Sie reichte ihm Karl.
„Es ist ein behördliches Schreiben.“
Karl öffnete das Kuvert, es war eine Vorladung der Kriminalpolizei zur Vernehmung. Er legte den Brief zur Seite und aß weiter.
Später setzte Lena sich zu ihm und sagte: „Wenn du dich vor Gericht verantworten würdest, würde ich zu dir halten und auf dich warten, danach könnten wir ja einen unbelasteten Neuanfang versuchen.“
Ihre Stimme klang warm und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Ich würde alles tun, um dir zu helfen, ich glaube, ich hab dich lieb. Aber einen brutalen Schläger, der von der Polizei gesucht wird, der passt nicht in mein Leben. Ich sehe täglich genug Elend und Menschen, die für jede Hilfe dankbar sind.“
Karl hatte geduldig zugehört, seine Entscheidung war längst gefallen. Er hielt sich zurück, er wollte keinen Streit. Lena merkte, ihre Argumente konnten Karl nicht umstimmen. Der Zug war abgefahren! Beide einigten sich, dass Karl, sobald er seinen Pass hätte, seiner Wege gehen sollte. Er musste fürchten, dass die Polizei sich bei Lena melden würde, um ihn festzunehmen, da er nicht zur Vernehmung erschienen war. Tage später wurde Lena angerufen; Salowitsch wollte sie sprechen. Nach der Arbeit ging sie zu ihm. Der Geschäftsführer mit der Hakennase kam auf sie zu und übergab ihr ein kleines Päckchen.
„Herr Salowitsch lässt sich entschuldigen und wünscht Ihnen alles Gute.“
Er drehte sich abrupt um und ließ Lena einfach stehen. Was die Hakennase wusste, konnte sie nur erahnen, aber das Verhalten dieses Mannes sagte alles. Dies war offensichtlich ein Rauswurf. Sie war böse auf Karl, sie war böse auf Salowitsch und sie war böse auf sich selbst. Es war bitterkalt und auf dem Nachhauseweg verflog diese hilflose Wut. Was blieb war der Entschluss, sich dieses Problems zu entledigen.
Karl saß wie immer vor der Glotze. Sie öffnete das Päckchen, in dem sich der nagelneue deutsche Reisepass mit Gültigkeit von zehn Jahren befand. Er war ausgestellt auf den Namen Klaus Blender und das Geburtsdatum entsprach in etwa Karls Alter.
„Du verlässt morgen früh mit mir die Wohnung.“
Sie sagte das mit einer Entschiedenheit, die keinen Widerspruch duldete.
„Die Wohnungsschlüssel bekomme ich jetzt.“
Karl gab ihr die Schlüssel und hätte er etwas mehr Geld gehabt, er hätte die Wohnung sofort verlassen. Sie saß auf der Couch und sah zu, wie Karl die Reisetasche packte. Es tat ihr leid, wie sie mit ihm umging, aber für sie gab es keinen anderen Weg.
Der nächste Morgen, es war noch dunkel, nass und kalt. Auf den Gehwegen lag grauer matschiger Schnee. Die Menschen kamen in kleinen Gruppen aus den Mietskasernen. Vermummt sammelten sie sich an den Busstationen, um in die Innenstadt zu kommen. Lena und Karl tranken jeder eine Tasse Kaffee ohne Frühstück. Beide waren darauf bedacht, bloß keine Gefühle zu zeigen. Die waren auch nicht mehr angebracht. Im Treppenhaus sah man sich kaum und in der Dunkelheit verlor man sich. An der Bushaltestelle suchten ihre Blicke Karl. Sie konnte ihn nicht finden, als sie im Bus saß, sah sie ihn auf dem Bürgersteig, seine schwarze Reisetasche umgehängt, in Richtung Stadt gehen. Was würde er wohl machen? Er hatte doch kaum Geld und die Polizei war auch hinter ihm her. Sie nahm sich vor, nicht mehr an ihn zu denken, ihre Arbeit half ihr dabei.
Karl ging zum Hauptbahnhof, seit je ein Ort der Kommunikation, des Treffens und Abschieds und auch ein Treffpunkt der Heimatlosen und Entwurzelten. Er hatte Hunger und aß ein belegtes Brötchen. Es war Betrieb. Die Einen flott und zielstrebig, die Anderen schlendernd mit viel Zeit. Was sollte er tun? Er stand mal wieder vor dem Nichts. Wo sollte er schlafen? Das Männerheim war ihm versperrt, das billigste Hotel konnte er sich nicht leisten und im Freien zu schlafen war eine Tortur, bei den Minusgraden. Er musste zu Geld kommen, aber wie? Ein Banküberfall? Vor Tagen hatte er schon mal daran gedacht aber den Gedanken gleich wieder verworfen. Er hatte moralische Bedenken. Von kriminellen Elementen hatte er sich, auch im Gefängnis, fern gehalten. Er hatte aus politischen Gründen gehandelt, so glaubte er. Einen Polizisten krankenhausreif zu schlagen, war das eine politische Tat? Seine Vorstellungen von Klassenkampf und Revolution waren in der Polizeizelle schnell verflogen und von seinen Mitkämpfern hatte es keine Unterstützung gegeben. Wer von denen vor Gericht stand, wusste er nicht. Er konnte doch nicht der Einzige sein, der sich zu verantworten hatte.
Was er jetzt plante war Raub, für den er keine moralische Legitimität hatte. Wenn er an das Männerheim dachte, waren seine Bedenken, was den Bankraub anging, schnell verflogen. Ihn packte auch eine gehörige Portion Angst, aber die Vorstellung, genügend Geld zu haben, war verlockend. Es war ein hin und her der Überlegungen. Er dachte an eine kleine Zweigstelle am Rand der Stadt. Unmittelbar in der Nähe befand sich ein großes Waldgebiet, in dem er untertauchen konnte. Würde der Überfall kurz vor Schalterschluss gemacht, hätte er den Vorteil der Dunkelheit. Eine Plastikpistole und ein Schal müssten ausreichen. Eine Verfolgung in den Wald war wenig erfolgreich für die Polizei. Hubschrauber mit Scheinwerfern im großen Waldgebiet bei Dunkelheit wenig aussichtsreich. Ein Großeinsatz vieler Beamten mit Hunden und Taschenlampen hatte in dem Feuchtgebiet kaum Erfolg. Ob die Filiale mit Kameras ausgerüstet war, wusste er nicht. Karl wusste aber, dass seit einiger Zeit Kameras zur Sicherheit am Schalter angebracht wurden. Karl hatte keine Wahl. Ohne Bett und ohne Körperpflege sah er nach Tagen aus, wie ein Penner. Das Ding musste noch heute über die Bühne gehen. Er blieb noch eine Weile am Bahnhof und verbrachte den Rest des Tages im Park. Im Spielwarenladen kaufte er sich eine echt aussehende schwarze Pistole. Um nicht aufzufallen noch andere Kleinigkeiten. Sein Geld reichte gerade noch, um mit dem Bus zur Bankfiliale zu fahren. Es war bereits dunkel und zur Bank musste er noch einige Minuten gehen. Alles war ruhig, ein kleiner Lebensmittelladen hatte bereits geschlossen. Hier draußen gingen die Menschen früher nach Hause. Als er auf der Höhe der Bank war, musste er eine Hauptstraße überqueren. Karl sah, dass sich kein Kunde in der Zweigstelle aufhielt. Er hatte eine Menge Angst, als er schnellen Schrittes zur Kasse ging. Ein Teil der Mitarbeiter hielt sich schon in den hinteren Räumen auf. In der Kasse stand eine junge Frau, die Karl, der sich mit dem Schal vermummt hatte, mit ängstlichem Blick und bleichem Gesicht anstarrte. Karl hielt ihr seine Plastikpistole vor und fummelte mit dem Ding vor der Kassiererin herum. Vor lauter Aufregung hatte er nichts gesagt während die junge Frau die losen Geldscheine auf den Tresen legte. Immer wenn sie innehielt, hob Karl die Pistole und zeigte drohend und unmissverständlich, dass er mehr haben wollte. Da er vor lauter Aufregung vergessen hatte eine Tüte mitzunehmen, stopfte er die Scheine in seine Mantel- und Hosentaschen. Tatsächlich hatte er keinen Platz, um das restliche Geld noch mitzunehmen. Da niemand etwas gesagt hatte und alles sehr schnell ging, hatte niemand den Überfall bemerkt. Als Karl sich umdrehte und zum Ausgang lief, fing die Kassiererin laut an zu schreien. Das war alles, was er noch mitbekam. Er rannte über die Straße, über einen Feldweg und verschwand im Wald. Hier, im Schutz der Dunkelheit, blieb er einen Augenblick stehen, um das Geld so in den Hosen, Jacke und Manteltaschen unterzubringen, dass er es nicht verlor. Wie konnte ich Trottel bloß so dämlich sein und eine Plastiktüte vergessen, dachte er und hetzte weiter durch das nasse Unterholz des Waldes. Wege musste er meiden und Gestrüpp, Wurzelwerk und umgestürzte Baumreste machten das Laufen nicht einfach. Nun hörte er auch das Martinshorn der Polizeiwagen. Wieder packte ihn die Angst, gefasst zu werden. Es durfte nicht alles umsonst gewesen sein, dass trieb ihn weiter. Er stolperte, fiel hin und blieb liegen, weil er keine Kraft mehr hatte. Er war so ausgepumpt, er hörte nur noch den eigenen Atem. Nach und nach beruhigte er sich. Die Dunkelheit und die Stille hielten ihn gefangen und er spürte die Kälte und Feuchtigkeit, die in die Kleidung zog, bis auf die Haut.
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