»Woher weißt du das alles?«, fragte ihr Vater, setzte aber gleich hinterher: »Natürlich, die Bücher.«
Sie ereiferte sich: »Du wirst sehen, die Brieftaubenverbindung ist ideal. Du müsstest nicht mehr selbst nach Frankfurt fahren. Die Tauben können freilich nicht Ottos dicke Briefe transportieren, ein paar Schlagzeilen, auf Seidenpapier geschrieben und ihnen ans Bein gebunden, das wird gehen.«
»Du hast Ideen«, wunderte ihr Vater sich.
»Es würde obendrein gut für deine Gesundheit sein, wenn du weniger reisen würdest«, sagte Eleonore. »Und wer weiß, vielleicht adelt dich der König wegen der Tauben und den Diensten, die sie ihm bringen.«
Er lächelte. »Adeln wollte er mich schon lange.«
»Weil er große Stücke auf dich hält«, sagte Eleonore, »und weil du ihm das Leben gerettet hast.«
»Lassen wir die alten Geschichten ruhen«, entgegnete ihr Vater.
Eleonore nickte. Das Band, das sie mit ihrem Vater verband, war stärker geworden. Er sprach mit ihr über Politik, hörte ihr geduldig zu. Er akzeptierte sie, sprach mit ihr wie mit anderen Männern. Sie sah wohl, wie er zuweilen über sie staunte. Sie dachte an Mutter. Ich kann die Lücke ein wenig ausgleichen, die sie hinterlassen hat.
»Ich bin froh, dir das Lesen meiner Bücher erlaubt zu haben«, stellte er sachlich fest. »Es hat dir zumindest nicht geschadet.«
Wie nah er wieder ihren Gedanken kam. Sie wollte etwas erwidern, aber dann versagte ihr die Stimme. Stattdessen täuschte sie ein Gähnen vor.
***
In Frankfurt kamen sie am Mittag an. Die Stunden flogen dahin. Erst unterwies Eleonore Onkel Otto in der Pflege der Tauben. Die Tiere schienen die Strapazen der Reise bisher gut zu vertragen. Ihr Onkel staunte, als sie ihm von der Taube und ihrem Flug von Tübingen nach Stuttgart erzählte. Er freute sich über die Tiere, doch wurde sein Gesicht ein wenig länger, als sie ihm die vielseitigen Anweisungen Vogts überreichte. Gemeinsam suchten sie einen Platz für den Käfig. Eleonore warf den Tauben noch eine Kusshand zu.
Am Abend sprachen die Männer ausgiebig über Politik. Eleonore saß abseits mit ihrer Stickerei und lauschte.
Früh am nächsten Morgen brachen sie auf. Immer wieder wechselten sie von einer Kutsche zu einer Eisenbahn und andersherum.
»Du wirst es erleben«, sagte ihr Vater, »dass Züge alle Städte miteinander verbinden.«
Meist schwieg er und hing ebenso wie sie seinen Gedanken nach. Endlich saßen sie in einem Zug, der sie vollends nach Berlin bringen würde. Eleonore blickte aus dem Fenster. Lange war nichts von Häusern zu sehen, geschweige denn von einer großen Stadt. Wiesen und Felder, dahinter ausufernde Wälder, säumten ihren Weg. Und doch bin ich bald Bettina von Arnim nahe.
Eleonore wurde der Mund trocken. Ein paar ihrer Notizen hatte sie eingesteckt. Es gab so vieles, was sie unbedingt Frau von Arnim zeigen, worüber sie mit ihr reden wollte. Über die Armut und die Gleichberechtigung für Frauen. Es musste ihr irgendwie gelingen, Frau von Arnim zu treffen. In der Eile des Aufbruchs hatte sie ihr nur ein paar Zeilen schreiben können: »Denken Sie nur, ich komme nach Berlin.« Würde der Brief überhaupt vor ihnen eintreffen? Über diesen Gedanken schlief sie ein.
»Kindchen, du musst aufwachen«, weckte sie die Stimme ihres Vaters.
Der Zug stand. Sie blickte verschlafen aus dem Fenster, an dem Passanten vorbeischlenderten und erschrak.
»Sind wir da?«, fragte sie.
»Eben angekommen«, antwortete ihr Vater. »Ich habe bereits einen Gepäckträger beauftragt, uns einen Wagen zu holen. Komm!«
Eleonore reichte ihrem Vater die Hand. Auf dem Bahnsteig blickte sie umher. Überall wuselten Reisende, Gepäckträger und Eisenbahnmitarbeiter in Uniformen herum. Schnaubend und zischend fuhr ein Zug aus der großen Halle. Dampfwolken wälzten sich unterhalb des hohen Daches.
Sie gingen nebeneinander in Richtung des Ausgangs. Warme Sonnenstrahlen nahmen sie in Empfang.
Ein Gepäckträger winkte ihnen zu. Hinter ihm stand eine Kutsche.
»Sie wird uns ins Hotel bringen«, sagte ihr Vater. »Das liegt an der Straße Unter den Linden , der Prachtpromenade der Stadt.«
Sie konnte nur nicken. Der Kutscher half ihr beim Einsteigen. Ihr Vater bezahlte den Gepäckträger und folgte ihr.
»Es ist lange her, dass ich in Berlin war«, erzählte ihr Vater. »Ich kann mich gut an meine Eindrücke beim ersten Mal erinnern. Ich habe den Kutscher gebeten, für dich einen kleinen Umweg zu fahren.«
Eleonore saß mit nach vorne gebeugtem Oberkörper am Fenster und sah hinaus. Ihre Kutsche fuhr schnell, überholte andere Wagen. Zwischendurch musste sie stehenbleiben, weil andere Fuhrwerke die Straße blockierten.
»Gleich fahren wir durch das Brandenburger Tor«, sagte ihr Vater.
Eleonore öffnete das Fenster und streckte ihren Kopf hinaus. Da sah sie die hohen Aufbauten des Tores. Oben thronte die Figur der Viktoria in ihrer Quadriga. Sie kannte den Anblick bisher nur aus Büchern. Als sie durch das Tor fuhren, legte sie ihren Kopf in den Nacken. Die Hufschläge der Pferde hallten wider.
Nach der Durchfahrt blickte sie zurück.
»Ich habe gelesen, dass der Siegeswagen 1806 von den Franzosen geraubt wurde. Nach der Niederlage Napoleons fanden preußische Soldaten die Skulptur unversehrt in Paris und so gelangte sie 1814 zurück an ihren angestammten Platz.«
»Manche Schätze wechseln in Kriegszeiten ihren Besitzer«, stimmte ihr Vater zu.
»Warum hassen die Deutschen die Franzosen?«, fragte Eleonore.
»Ich denke, die Franzosen haben zu viele Kriege geführt. Wie du weißt, haben sie Stuttgart mehrfach eingenommen und sich nicht immer als gute Gäste erwiesen.«
Eleonore blickte nach vorne. Die Kutsche war rechts abgebogen. Die Strahlen der Sonne brachten die Schneereste zum Schmelzen. Rinnsale zogen quer über die Straße.
Kein Zweifel, der Frühling nahte. Eleonore lockerte ihren Schal. Sie sah auf der linken Seite Dampf aus den Rinnsteinen hochsteigen. Was mochte der Grund dafür sein? Entlang der Häuser verlief ein Kanal, den starke Bohlenbretter vor den Eingängen bedeckten. Von dort floss in beide Richtungen eine rötliche, dampfende Brühe. Auf einem Schild pries ein Schlachter seine Waren an.
Mit einem Mal umfing sie ein ätzender Gestank, kroch ihre Nase hinauf. Schnell schloss sie das Fenster. Zu spät. Ihr Vater brummte, sagte aber nichts. Erst nach etlichen Metern wagte es Eleonore, das Fenster wieder zu öffnen. Die frische Luft tat gut.
Mehrgeschossige Häuser säumten die Straßen. Markisen zierten die Fenster. Links und rechts der Fahrwege lagen breite, mit Granitplatten ausgelegte Fußwege. Paare spazierten umher, die Männer mit Gehstock und Zylinder, die Frauen mit Sonnenschirmen. Sie trugen farbenprächtige Kleider. Eleonore kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Cafés und Hotels lockten Gäste, Schuhmacher, Schneider und Hutmacher priesen in Schaufenstern ihre Waren an. Viele warben damit, Lieferant eines Prinzen oder einer Prinzessin zu sein oder nannten sich einfach Hoflieferant. Halb Berlin trieb offenbar mit dem Königshaus Handel.
Die Großstadt entfaltete ihr Treiben. Sie überholten Frachtwagen, die rumpelnd ihres Weges zogen, sahen Dienstboten mit Körben vorbeieilen und Kinder, die umherrannten. Der Chor an menschlichen Stimmen beeindruckte Eleonore besonders. Als sei sie in einen Bienenschwarm geraten. So viele Menschen kannte sie von Stuttgart nur an besonderen Markttagen, etwa dem Weihnachtsmarkt.
Es ging noch einmal links herum, dann blieb die Kutsche vor einem mehrstöckigen Gebäude stehen. Hotel de Russie , las Eleonore.
»Wir sind da«, sagte ihr Vater. Aus dem Hotel traten Pagen. Sie luden ihr Gepäck auf eine Handkarre.
Eleonore sah die Straße entlang. Eine Soldatenkolonne marschierte heran. Ein sie begleitender Offizier gab laute Kommandos, die beinahe im monotonen Stampfen der Stiefel untergingen. August von Engel hätte seine Freude gehabt. Die Soldaten passierten die Kutsche und liefen weiter in Richtung Schloss. Eleonore blickte ihnen nach. Viele neue Eindrücke waren auf sie hereingeprasselt, seit sie den Zug verlassen hatten, und sie ahnte, dass die nächsten Tage weitere neue Erfahrungen für sie parat hielten. So fühlt sich das Leben an , ging es ihr durch den Kopf. Sie atmete befreit auf, wandte sich an ihren Vater.
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