Der Mann trat näher, nahm seinen Hut ab und zwängte sich auf die Bank ihm gegenüber. Seit drei Jahren arbeitete er nun schon für ihn, und Friedrich war sich immer noch nicht sicher, ob er wirklich Blasius hieß. Der Mann war wie ein Chamäleon, stets bereit, seine Identität zu wechseln.
»In welchen Geschäften sind Sie unterwegs?«, fragte Friedrich.
»Weinhändler. Heute bin ich Weinhändler.« Seine listigen Augen blitzten auf.
»Und was haben Sie mir aus Berlin zu berichten?«
Blasius betrachtete die Speisen und den Rotwein. Noch vor Friedrich lud er von dem Braten auf seinen Teller.
»Ihr Bruder lebt sich dort ein.« Er schnitt ein großes Stück vom Fleisch ab, spießte es mit der Gabel auf und schob es in seinen Mund. Bratensaft lief sein Kinn hinab.
Friedrich aß immer noch nichts. Er beugte sich vor.
»Weiter?« Er flüsterte fast, und Blasius verstand, wischte sein Gesicht ab und setzte sich gerade auf.
»Jeden Tag verlässt er früh das Haus, durchstreift die Straßen. Einen Brief hat er zugestellt. Der Empfänger ist harmlos. Mit einem der Hausmädchen hat er sich offenbar angefreundet.«
Friedrich horchte auf. »Wissen Sie ihren Namen?«
»Clara. Eine Rothaarige.«
Friedrich entspannte etwas. Also nicht Ysette, seine Ysette. Clara war eine von der aufgeweckten Art und hatte, wie er wusste, selbst einen Freund. Sollte das alles sein?
»Trifft er irgendwelche Leute öfters?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Dann sagt endlich!«
Blasius kaute gerade ein besonders großes Stück und leerte sein Weinglas bereits zum zweiten Mal.
»Er hat in einem Lokal wohl ein paar Arbeiter beeindruckt, indem er einer Magd zur Hilfe eilte. Seitdem steckt er immer wieder mit ihnen die Köpfe zusammen. Leider gab es bereits ein Missgeschick.«
»Was?« Friedrich hob seine Stimme. »Sind Sie ihm etwa begegnet?«
»Oh nein«, beschwichtigte Blasius. »Mich würde er ja sofort erkennen. Nein, aber einer der ihn beobachten sollte, wurde als Spitzel entlarvt. So ein blonder Hüne hat ihn aus dem Lokal geworfen. Jetzt setze ich weniger auffällige Menschen auf ihn an. Vor allem unterschiedliche.« Blasius rollte mit den Augen.
»Ich weiß, das kostet. Geld sollt Ihr gleich bekommen. Was habt Ihr über diese Treffen herausbekommen?«
»Sie arbeiten an einem Flugblatt. Zur Gruppe gehören zwar nur eine Handvoll Leute, aber die stehen offenbar im Kontakt mit anderen Gruppen.«
»Wie kommt Ihr darauf?«
»Da wandern immer wieder Pakete hin und her. Alle etwa gleich groß.«
»Waffen?« Friedrich rückte näher.
»Das weiß ich noch nicht. Wenn Ihr wünscht, würde ich einen der Paketboten niederschlagen lassen und ihm seine Ware entwenden.«
Friedrich dachte nach. Offenbar lief es so, wie er es sich vorgestellt hatte. William war in eines der Nester aufmüpfiger Demokraten geraten.
»Nein, das ist zu riskant«, beschied er. »Behaltet die Gruppe im Auge, verfolgt auch die, die nur sporadisch auftauchen.«
»Sie nähen irgendetwas ein«, fuhr Blasius fort. »Soweit konnte es einer meiner Männer schon prüfen.«
Waffen hatten eine leicht erkennbare Form. In Stoff eingewickelt oder gar eingenäht, konnten sie besser verborgen werden.
Blasius reichte ihm einen Umschlag. »Hier sind alle Berichte, die mir bis vor der Abfahrt vorlagen.«
»Frau Wirtin«, rief Friedrich.
Die dicke Frau kam herangewatschelt.
»Hier ist das Geld. Kümmert Euch bitte um diesen Gast. Er wird ebenfalls bald weiterreisen wollen. Und lasst meinen Wagen vorspannen. Der Kutscher …«
»Liegt im Stroh und schläft.«
»Dann weckt ihn auf. Packt uns Brote, Käse und Wein ein.«
Friedrich stand auf und wandte sich an Blasius. »Ihr könnt zu Ende essen, aber seht zu, dass ihr nach Berlin zurückkehrt. Haltet die Augen auf.«
Damit verließ er das Lokal. Vor dem Gasthaus stand bereits seine Kutsche. Er öffnete den Wagen und setzte einen Fuß auf die Einstiegsleiter. Da eilte die junge Frau von eben heran, ein Paket unter ihrem Arm.
»Das dürft ihr mir übergeben«, sagte Friedrich, nahm ihr das Paket ab und blickte hinein. Es enthielt eine Schwarzwurst, Brot und Käse sowie einen Weinschlauch.
Friedrich streifte ihren Arm. Sie duftete wie frisch gebadet.
»Ob ich Euch wohl antreffe, wenn ich wiederkomme?«, fragte er. Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg er ein. »Dies lasse ich als Erinnerung zurück«, sagte er leichthin, und reichte ihr sein Taschentuch.
Die Frau trat zurück, sah ihn mit ihren großen Augen an.
»Auf bald«, rief Friedrich.
Berlin und Stuttgart, März 1848
Die Eisenbahn zog mit ratternden Rädern durch die Landschaft. Eleonores Vater erwachte, reckte die Arme und gähnte. Er hatte die halbe Fahrt verschlafen, sie mit ihren Gedanken alleingelassen. Außer ihnen saß niemand im Abteil.
»Wusstest du, dass die alten Ägypter mithilfe von Brieftauben Nachrichten versendet haben?«, fragte ihn Eleonore.
»Ich bin gespannt, wie Otto darauf reagiert«, brummte ihr Vater.
»Es wird ihn freuen.« Eleonore beugte sich zu ihrem Vater vor und legte ihm beide Hände auf die Knie. »Was ist das immer für eine Aufregung, wenn du einen Brief von Onkel Otto erhalten hast? Man sieht dich dann stundenlang nicht.«
»Du weißt doch, mein Kind, in Frankfurt tagen die Vertreter aller deutschen Staaten, beraten und entscheiden wichtige Angelegenheiten.«
»Die auch Württemberg betreffen«, ergänzte Eleonore. »Darum führt dich dein erster Weg stets zum König, wenn du Ottos Briefe gelesen hast. Wie lange werden wir in Berlin bleiben?«, fragte sie und wechselte das Thema.
»Das wird sich weisen. Wir werden dir auf alle Fälle ein paar Kleider kaufen müssen.«
Eleonore dachte an die Tauben, die im Gepäckwagen mitfuhren.
»Auf der Rückreise nehmen wir die jungen Tauben mit. Die haben dann Ottos Haus als ihre Heimat angenommen, sodass, wenn wir sie in Stuttgart fliegen lassen, sie schnurstracks zu ihm fliegen.«
»Und die älteren Tauben, die Otto behält, fliegen nach Stuttgart, wenn er sie freilässt. Ich bin gespannt, ob das klappt.«
Eleonore beeindruckten die Zweifel ihres Vaters nicht. »Du kannst Otto mit jeder Taube eine Frage zukommen lassen. Acht Tiere, acht Fragen?«
»Hmmh«, machte ihr Vater und räusperte sich zweimal.
»Du hast dich bestimmt gefragt, was mich nach Berlin treibt?«, wechselte ihr Vater seinerseits das Thema.
»Eine Mission«, mutmaßte Eleonore. Sie lehnte sich zurück. »Der König kann sich glücklich schätzen, in dir einen Vertrauten zu haben.«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann blickte er wieder ernst.
»Die zwei Hohenzollernschen Fürsten sind amtsmüde. Angeblich streckt der badische Großherzog seine Finger aus und will ihre Länder haben. Sie mögen zwar klein sein, haben zusammen nicht halb so viel Einwohner wie Stuttgart, dennoch würde das unserem König nicht gefallen.«
»Will er die beiden Fürstentümer für Württemberg?«, fragte Eleonore. »Und du sollst in Berlin erkunden, was die Preußen davon halten? In Sigmaringen steht doch ihre Stammburg. Sind sie nicht mit den Fürsten verwandt?«
»Offiziell bin ich in Bankangelegenheiten des Königs unterwegs«, erzählte ihr Vater weiter. »Von all dem hast du natürlich keine Ahnung.«
Sie nickte.
»Wäre es nicht von Vorteil, wir würden die Tauben bis Berlin mitnehmen?« fragte Eleonore. »So würde der König schnell erfahren, was du erkundet hast.«
Ihr Vater hob seine Augenbrauen.
»Wusstest du, dass die Sportler bei den antiken Spielen in Olympia bereits Brieftauben mitnahmen? Gewannen sie einen Lauf, dann sandten sie mithilfe der Tauben einen Teil des Zielbandes als Zeichen ihres Sieges zurück in ihren Heimatort.«
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