Sie legte ihr Besteck zur Seite.
»Es ist viel zu tun«, sagte sie.
Ihr Vater nickte, Maria schüttelte den Kopf.
Eleonore rannte die Treppe hoch. In ihrem Zimmer fiel sie rücklings auf ihr Bett.
Berlin!
Würde sie Frau von Arnim treffen? Es musste ihr irgendwie gelingen. Vater würde bestimmt Besuche machen. Gab nicht Frau von Arnim einen Salon in Berlin? Auf alle Fälle würde sie die Wohnhäuser der Armen anschauen.
Eleonore sprang hoch und ging zu ihrem Kleiderschrank. Sie wählte ihr blaues Seidenkleid und nahm auch das Bündel, in dem sie ihr schlichtes Kleid verwahrte.
Bald lagen Kleider, Hüte und feine Schals wild durcheinander. Sie musste zwischendurch innehalten. Eleonore trat an die Kommode und lächelte ihr Spiegelbild an.
Ich muss Maria fragen, ob sie das mit den Tauben verstanden hat . Gut, dass sie daran gedacht hatte. Würde das wirklich gehen, würde es so sein, wie sie erhoffte? Ihre Haut glühte, als heizten ihre Gedanken ihren Körper auf.
Auf der Kommode stand ihr Waschwasser. Hatte ihr August heute einen Antrag machen wollen? Sie schlüpfte aus ihrem Kleid, ließ es zu Boden sinken.
Sie atmete ein paar Mal tief durch, sah ihre Brust jedes Mal anwachsen unter dem Mieder. Eleonore nahm den Waschlappen, tränkte ihn in der Waschschüssel und blickte ihr Spiegelbild an. Habe ich zu große Brüste , überlegte sie kritisch? Oder waren sie zu klein? Marias Busen stellte den ihren auf jeden Fall in den Schatten.
Mit einem Mal wurde sie ernst. In Berlin traf sie bestimmt auf junge Männer, die ihr den Hof machen würden. Von Engel war weit weg. Gott sei Dank hatte Vater dessen Burschen als Begleitung abgelehnt.
Eleonore wischte über ihre Wangen, den Hals, tränkte den Lappen erneut im Wasser und fuhr ihre nackten Schultern entlang. Das kühle Wasser tat gut. Sie legte den Lappen zur Seite, löste das Mieder und nahm ihn wieder auf. Langsam fuhr sie in ihren Ausschnitt, rutschte tiefer und spürte, wie ihre Brustwarzen hart wurden. Sie schloss die Augen. Wenn das die Hand eines geliebten Mannes wäre. Ein vages Bild entstand in ihrem Kopf. Es war nicht das Gesicht August von Engels …
So lang das Übel zu ertragen ist
Berlin und Nordfrankreich, Februar 1848
William saß in der Bibliothek der Reichenbachs, als Clara eintrat, einen Staubwedel in den Händen.
»Heute ist Mittwoch, da rücken wir dem Staub zu Leibe«, sagte sie.
Vor ihm auf dem Tisch lag das Buch der Bettina von Arnim.
»Lass dich nicht stören«, murmelte William, ganz in Gedanken.
Clara wandte ihm den Rücken zu und bearbeitete Regal um Regal. Kannte sie die Verhältnisse in den Vorstädten? Er formulierte eine Frage, als ihm ein anderer Gedanke kam.
»Kennst du meinen Bruder?«
Sie hielt kurz inne.
»Klar. Der geht bei den Reichenbachs ein und aus.«
Das nächste Regal kam dran.
»Wie ist er so?«
»Aussehen tut er wie du. Man könnte euch glatt verwechseln.«
»Und als Mensch?«, fragte William.
»Er ist stets freundlich.« Clara gluckste auf, wandte sich um. »Besonders zu Frauen.«
William versuchte, sich an den Friedrich zu erinnern, den er von Stuttgart her kannte. Es blieb ein vages, verschwommenes Bild.
»So, ich gehe besser, bevor ich zu viel tratsche.«
Wieder allein, grübelte er nach. Friedrich ein Weiberheld? Zumindest deutete Claras Aussage in diese Richtung. Kam Friedrich nicht schon damals, im elterlichen Gasthaus, gut mit den weiblichen Gästen aus?
Da hatte es eine Dachkammer gegeben, in der sie leere Kisten und zurückgelassene Sachen der Gäste aufbewahrten. Dorthin war Friedrich mit manchen Frauen verschwunden, um sie mit Bleistift zu zeichnen. Er, der kleine Bruder, hatte mehr als einmal Schmiere gestanden.
Die Portraits gefielen, und bald kamen Gäste eigens, um sich vom Sohn des Hauses zeichnen zu lassen. Das konnte Friedrich auf Dauer nicht verheimlichen, und als ihr Vater dahinterkam, tobte er. Während Friedrich malte, konnte er weder in der Gaststube noch im Stall helfen. Aber die Malkünste brachten Geld. Bald tolerierte ihr Vater die Malerei, trieb Friedrich sogar an, warb bei allen Gästen mit dessen Talent und verdonnerte William, umso mehr zu arbeiten. Wie er das gehasst hatte. Trotz seines Grolles musste er sich eingestehen, stolz auf Friedrichs Leistung zu sein.
Umso unerklärlicher war es William, als sein Bruder eines Tages verschwand und Vater ihm mit bebender Stimme erklärte, er habe nur noch einen Sohn, und das sei er.
In den nächsten Monaten sprach niemand von Friedrich, als habe es ihn nie gegeben. Erst wieder in Le Havre, als sie an Bord des Auswandererseglers gingen.
»Wir können Friedrich doch nicht zurücklassen«, hatte William aufbegehrt.
»Der ist gestorben«, hatten seine Eltern gelogen.
Aber Friedrich lebte.
Warum war es zum Bruch mit ihren Eltern gekommen?
***
Für den Nachmittag war William mit Danner verabredet. Der erwartete ihn am Hamburger Tor.
»Wenn es beliebt, wollen wir gleich mal ins Lange Haus «, grüßte ihn der Blonde.
William, der mit Reichenbach über die Familienhäuser gesprochen hatte, wusste von diesem, dass das größte von ihnen auch das Lange Haus genannt wurde. Danner ging voraus. Was würde er ihm zeigen? Stand es um die Bewohner besser, als er es in Bettina von Arnims Buch gelesen hatte? Die Berichte lagen vier Jahre zurück. Es musste doch besser geworden sein. Nach wenigen Metern standen sie vor dem Eingang.
»Hier residieren die Armen, zu Tausenden vereint«, schwadronierte Danner.
William blickte die Fensterreihen entlang.
Im Treppenhaus roch es nach Kohlsuppe, Zwiebeln und Fisch. Links und rechts führten schmale Korridore an den einzelnen Stuben vorbei.
Danner trat scheinbar ohne festes Ziel mal an diese, mal an jene Tür, klopfte an und lauschte. Blieb die Tür verschlossen, zuckte er die Schultern und ging weiter. Der arbeitslose Arbeiter Just war dann der Erste, der ihnen öffnete.
Fast blind, blickte der mit glasigen Augen in Williams Richtung.
»Ist aber niemand von der Armendirektion«, knurrte der Mann.
»Ein Journalist aus Amerika«, sagte Danner laut.
Hinter Just stand seine Frau, die hielt eine Schar Kinder zurück, die neugierig nach vorne drängten. Er nickte ihr zu.
»Gibt es denn Hilfe von der Armendirektion?«, fragte er.
»Du musst lauter sprechen«, ermahnte ihn Danner. »Der arme Just ist beinahe taub.«
William wiederholte seine Frage.
»Wir sind keine Bittsteller, wir sind auch wer«, sagte der Arbeiter und zeigte auf seine Kinder. »Die nimmt er gerne, unser König, wenn es gilt Krieg zu führen. Wenn sie nicht vorher alle verhungern.«
William holte ein paar Münzen und reichte sie der Frau. »Für ein anständiges Essen«, sagte er.
Ein paar Wohnungen weiter trafen sie auf den Schneider Brinke. Der saß direkt unter den Fenstern und nähte an einem Hemd. Ihm zu Füßen saßen drei Kinder und polierten Messingknöpfe. Immer wieder hielt der Mann mit seiner Arbeit inne und hustete krampfhaft. Bevor er weitermachte, wischte er mit einem Stofftaschentuch über seinen Mund. Dunkle Schlieren blieben zurück.
»Wie kommst du voran?«, fragte Danner.
Der Schneider brummte nur als Antwort.
»Sie haben also Arbeit?«, mutmaßte William.
Der Schneider sah ihn an und grinste breit. Dunkel verfärbte Zähne traten hervor.
»Macht der mit?«, fragte er Danner.
»Ja, er ist dabei. Er hilft uns mit Worten.«
Der Schneider verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, wollte etwas sagen, aber ein erneuter Hustenanfall kam dazwischen.
»Er arbeitet für mich«, sagte stattdessen der Blonde.
William kramte auch hier nach Münzen. Dabei blickte er sich in der Wohnung um. Überall lagen Kleidungsstücke herum. Eine Hose auf dem Bett erinnerte ihn an eine Uniformhose. Er reichte dem Mann das Geld.
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