Sie verließen den Schneider und gingen zurück zum Treppenhaus.
»Der macht bald Platz für neue Mieter.«
»So hat sich also nichts geändert«, mutmaßte
William.
»Was soll sich denn geändert haben?«
William sah ihn an. »Ich dachte, das sogenannte Königsbuch hätte etwas bewegt.«
»Wörter, nutzlose Wörter«, blaffte Danner. »Bleib mir mit der heiligen von Arnim weg. Die wohnt immer noch fein, bettet ihr Haupt des Nachts auf Daunen. Aber ich zeige dir einen Hoffnungsschimmer«, fuhr er fort.
Sie gingen die Treppen hinunter. Auf Höhe der ersten Etage mussten sie eine entgegenkommende Frau abwarten. Die war so dick, dass sie auf den Flur ausweichen mussten, um ihr Platz zu machen.
»Nicht das du denkst die wär’ so fett vom Fressen. Die gute Berta ist schwanger. Muss das achte oder neunte Kind sein.«
Gerade als sie weitergehen wollten, kam ihnen ein junger Mann mit strohblondem Haar entgegen. Ihm folgten drei Damen in feinen Kleidern. Der Mann nickte Danner zu, der zum Gruß an seine Stirn tippte. Die Frauen blickten zur Seite. Eine hielt ein seidenes Taschentuch vor die Nase. William glaubte darauf Initialen zu erkennen.
»Für die feinen Herrschaften ist das hier ein Zoo. Anstatt Tiere kann man eben arme Menschen angaffen. Das hat Frau von Arnim mit ihrem Buch bewirkt. Soviel zu der Kraft der Wörter. Außer ein paar Groschen, die die feinen Damen ab und an spenden, ist alles wie eh und je.«
William folgte wie betäubt. Konnte das alles wahr sein? Das dürften traurige Berichte werden, die er da in die Staaten senden würde. Sollte er nicht hier gegen das Elend schreiben? Aber wie? Konnte da ein Flugblatt helfen?
Als sie im Kellergeschoss ankamen, war es noch eine Spur dunkler. Zu seiner Überraschung ging Danner gezielt auf eine Tür zu und öffnete diese, ohne zuvor anzuklopfen.
»Ich muss ja auch wo ein Bett haben«, sagte er leichthin.
Die Wohnung glich in den Abmessungen den anderen, doch gab es hier keine Kinder. Auf dem Boden lagen unterhalb der Fenster zwei Strohmatten.
»Da schlafen ab und zu welche für ein paar Groschen. Ansonsten wohne ich allein. Ich glaube ich bin der Einzige hier im Haus, der keine Bälger verköstigen muss.«
Zur Linken stand ein breites Bett, darunter lagen ein paar Kartons. Im Zwielicht konnte William nicht erkennen, was sich darin befand. Ein klobiger Tisch stand in der Mitte. Darauf lagen leere Flaschen, ein Holzteller und etliche Papiere herum.
Danner reichte ihm ein Papier.
»Das Hungerlied«, las William. Und weiter:
Verehrter Herr und König,
kennst du die schlimme Geschicht?
Am Montag aßen wir wenig,
und am Dienstag aßen wir nicht.
Und am Mittwoch mussten wir darben,
und am Donnerstag litten wir Not,
und ach, am Freitag starben
wir fast den Hungertod!
Drum lass am Samstag backen
das Brot fein säuberlich –
sonst werden wir sonntags packen
und fressen, o König, dich!
Georg Weerth, geschrieben 1844
»Die Schrift ist natürlich verboten, wie alles, was der Wahrheit entspricht. Aber die Besitzenden ahnen, dass sich da etwas zusammenbraut. Sie sind nicht völlig blind, nicht völlig taub. Deshalb schüchtern sie uns mit noch mehr bunten Röcken ein. Mehr Soldaten, mehr Gendarmen. Alles vergebens. Bevor wir einander auffressen, holen wir unser Brot von denen, die es im Überfluss haben.«
So lang das Übel noch zu ertragen ist.
Warum kam William gerade dieser Satz aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung in den Sinn? Mit einem Male war er beim Flugblatt und bei dem Gedanken, dass es galt, die Finger in die Wunde zu legen. So wie er es bereits in Boston getan hatte. »Wörter haben durchaus Kraft«, sagte er bestimmt.
»Und wir werden vorbereitet sein, wenn es gilt, loszuschlagen.«
»Gegen all die Soldaten in der Stadt seid ihr machtlos.«
»Nicht unbedingt. Nicht unbedingt«, sagte Danner düster.
William hatte das Gefühl, dass das nicht nur leere Worte waren. Irgendetwas schien Danner im Schilde zu führen. Er betrachtete nachdenklich den Blonden. Einer Arbeit ging der nicht nach, und doch ging es ihm leidlich. Der Schneider arbeitete sogar für ihn, wie er gesagt hatte.
»Woher bekommst du dein Geld?«, fragte er.
Danner sah ihn stolz an. »Ich habe Freunde, die meine Dienste zu schätzen wissen.«
Sie verließen die Wohnung, gingen die Treppen hinauf und traten auf die Straße.
»Lass uns zum Bierkeller gehen«, sagte Danner. »Ich habe Durst und dort können wir über das Flugblatt reden.«
Sie gingen schweigend nebeneinander her. William überlegte dabei, was er tun konnte, um die Not zu lindern. Er könnte wie der heilige Sankt Martin seinen Mantel teilen, seinen Schal und seine Handschuhe hergeben. Wenn er nur sparsam genug lebte, konnte er auch von Singers Geld etwas nehmen. Aber alles schien ihm zu wenig. Als wollte man ein brennendes Haus mit einem einzigen Eimer Wasser löschen.
Oder selbst Geld hinzuverdienen. Dem stand die Zensur im Weg. Das Flugblatt konnte nur ein erster Schritt sein. Ein kleiner, aber wohl auch ein gefährlicher. Er wollte einen Weg finden, der sie nicht in die Hände von Gendarmen spielte.
***
Friedrich Euskirchen rieb sein Rückgrat. Stundenlang war er in einer Kutsche auf das Übelste hin- und hergeworfen worden und nun saß er in einem heruntergekommenen Gasthof irgendwo in der Provinz.
Die Frau des Wirtes, eine dralle, unansehnliche Person, lugte in seinen Bierkrug.
»Noch was zum Trinken?«, fragte sie barsch.
»Eine Karaffe Wasser«, bat er.
Sie brabbelte etwas vor sich hin und zog weiter. Friedrich brannte darauf, endlich Nachrichten zu erhalten. Gleichzeitig wollte er so schnell wie möglich zurück nach Paris. Er seufzte. Seit geraumer Zeit spielte er mit einem Geldstück in seiner Jackentasche. Er legte es auf den Tisch.
»He, Wirtin«, rief er in das Zwielicht hinein.
»Ich bringe ja schon Euer Wasser«, schimpfte sie. Dann sah sie das Geld.
»Das bekommt Ihr, wenn Ihr noch etwas Anständiges zu Essen für mich auftreibt. Aber kein Brei, nicht das billige Zeug, das Ihr sonst anbietet. Kalten Braten, etwas Käse, und bringt mir noch eine Karaffe Wein.«
Die Frau rieb ihre Hände an der fleckigen Schürze ab und nahm die Münze.
»Oh, dafür könnt Ihr das Paradies auf Erden bekommen«, sagte sie.
»Erst das Essen, dann das Geld. Und dass mir auch für die Pferde gesorgt wird. Ich werde heute noch zurückfahren.«
»Sehr wohl der Herr.«
So war die Wartezeit wenigstens sinnvoll genutzt. In Paris gärte es in den Vorstädten, dort, wo die Arbeiter wohnten. Aber auch im gehobenen Bürgertum murrten sie über das Königshaus. Deren Oberhaupt, der Bürgerkönig Louis, zeigte sich tatenlos und schwach. Waren in Berlin nicht auch schon erste Zeichen von Unruhe aufgetaucht, noch bevor er abgereist war? Er dürstete nach Nachrichten aus Berlin, Informationen aus erster Hand. Und über Wilhelm, der sich jetzt William nannte.
Wo blieb nur Blasius, sein Mann fürs Besondere? Er sollte doch in der Lage sein, einen Treffpunkt zur vereinbarten Zeit zu erreichen. Nach einer weiteren halben Stunde kam die Wirtin zurück, eine junge Frau im Schlepptau. Sie brachten ein Tablett mit Käse und Braten, dazu eine Karaffe Rotwein. Die junge Frau schenkte ihm ein Glas ein. Ihre Haut war hell, fast weiß und makellos.
Friedrich beobachtete sie und überlegte, ob er nicht doch eine Nacht hier einlegen konnte. Er verwarf den Gedanken wieder. In so einem Haus war er nicht sicher. In seine Überlegungen hinein platzte ein neuer Gast. Dessen kleine, gedrungene Gestalt hob sich dunkel gegen den Hintergrund der geöffneten Tür ab.
»Noch ein Gedeck«, seufzte Friedrich. Es sah Blasius ähnlich, dass er sich verspätete, aber rechtzeitig zum Essen erschien.
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