William knurrte der Magen. Er suchte jemanden, den er nach dem Bierkeller fragen konnte. Da trat ein Mann in einfacher Kleidung aus dem Haus.
»Verzeihen Sie«, sprach William ihn an. »Kennen Sie den Bierkeller ?«
Der Mann musterte ihn argwöhnisch.
»Habense Durst oder wat?«
»Spielt das eine Rolle?«
Der Mann zuckte die Schultern. »Sie haben Glück. Mich dürstet und ich will dorthin.«
Sie gingen nebeneinander schweigend die Straße entlang und passierten eine andere Schankwirtschaft. Eine Frau stand davor und gerade als William auf ihrer Höhe ankam, öffnete sie ihren Mantel. Darunter trug sie eine fleckige Bluse mit tiefem Ausschnitt.
»Willste mit mir nach oben gehen?«, fragte sie mit rauchiger Stimme.
Er verneinte und eilte dem Mann nach, der weitergegangen war. Der bog nach rechts ab und blieb nach wenigen Metern stehen.
»Lassense mir einen Vorsprung«, bestimmte der Mann vor dem Eingang zum Bierkeller . »Ich kenne Sie nicht und will keine Scherereien, sollten Sie welche machen.«
Bevor der Mann eintrat, blickte er sich um. William schien, als ob er einem Mann, der gegenüber an eine Hauswand gelehnt stand, zunickte. Der Fremde trug eine schwarz-weiß karierte Schirmmütze. Als er sich wieder umdrehte, war sein Führer bereits verschwunden.
William folgte. In der Gaststube blieb er einen Moment stehen, um sich an das Zwielicht zu gewöhnen. Durch die schmalen, länglichen Fenster drang wenig Tageslicht herein. Links und rechts standen ein paar Tische. Am entgegengesetzten Ende füllte ein Mann hinter einer Theke Bierkrüge. Neben der Theke gab es eine zweite Tür. Die meisten Tische waren besetzt. Stimmen erfüllten den niedrigen Raum. Der Mann, dem William gefolgt war, saß neben einem blonden Mann an einem langestreckten Tisch und flüsterte diesem etwas zu. Neben ihnen saßen weitere Männer. William nahm am anderen Ende Platz und schlug die Zeitung auf.
»Was darf es sein?«, fragte ihn ein junges Mädchen. Sie hatte eine weiße Schürze umgebunden.
»Ein Bier und etwas zu essen.«
»Bohneneintopf oder Brühe mit Schwarzbrot?«
Er bestellte Brühe. William überflog die Schlagzeilen. Seine Majestät, der König, habe allergnädigst geruht, dem verdienten Richter sowieso einen Orden zu verleihen. Seine Königliche Hoheit, der Prinz von Preußen, sei nach Weimar abgereist. Er blätterte bis zu den Anzeigen weiter. Da zeigte ein Vater glücklich die Entbindung seiner Frau an, eine Anzeige warb für ein neu erfundenes Frostheilwasser. Er legte die Zeitung beiseite.
Ein weiterer Gast betrat die Wirtsstube und setzte sich zwei Plätze von ihm entfernt hin. Ihm folgte der Mann mit der schwarz-weiß karierten Schirmmütze, der ihm vorher aufgefallen war. Der ging schnurstracks auf den Blonden zu und flüsterte dem etwas ins Ohr. Der Blonde musterte abwechselnd William und den neuen Gast.
William sah aus den Augenwinkeln heraus das Mädchen zurückkommen. Sie stolperte und schrie erschrocken auf. Bier schwappte aus den Krügen, die sie in den Händen hielt, und spritzte auf den Fußboden.
»Herrgott, Judith, das wirst du mir bezahlen«, rief der Wirt grob hinter der Theke. Das Mädchen stellte zitternd einen Krug vor William auf den Tisch, ohne ihn anzusehen, und ging in Richtung des Wirtes. William blickte ihr nach. Der Wirt trat vor und erwartete sie mit erhobener Hand. Die Konturen des Wirtes verwandelten sich in Williams Wahrnehmung zu Blackburn, den Aufseher im Waisenhaus. Wie der ihn anstarrte, nachdem ihm der Teller mit dem wässrigen Erbsenbrei aus der Hand gerutscht war. »Das wirst du mir büßen!«, hatte Blackburn geknurrt und war mit einem Rohrstock auf ihn zugekommen. William vertrieb die Schatten der Vergangenheit und sprang zwischen Wirt und Mädchen. Die Gespräche ringsherum verstummten.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte William mit Bestimmtheit.
Der Wirt blickte ihn streitlustig an und lächelte verächtlich.
»Was willst du halbe …« Er hielt abrupt inne, als William seine Locke zur Seite wischte.
»Wenn Sie zuschlagen, wird es ein kurzer Kampf«, sagte William. Geht das wieder los mit der Gewalt? Konnte er nicht friedlich auskommen? Seine Nasenflügel bebten.
»Schon gut«, murmelte der Wirt, wich ein Stück zurück, sah zu seinem Schankmädchen und trat hinter die Theke.
William senkte seine Hand und ging zurück in Richtung seines Platzes.
»Donnerwetter«, sagte der blonde Mann. Er war aufgestanden, trat ihm entgegen und reichte ihm die Hand. Er überragte William um einen Kopf.
»Willst du nicht näher zu uns rücken?« Er deutete auf einen Stuhl neben seinem Platz. »Rück zur Seite«, knurrte er den an, der noch dasaß.
»Mein Name ist Rudolf Danner«, nannte der Hüne seinen Namen. »Ehemals Gießer bei Borsig. Die anderen Männer sind Leidensgenossen aus anderen Fabriken.
Johann haben sie ebenso gekündigt wie Paul, Christopher und Heinrich.«
William nahm Platz. Das Mädchen brachte sein Essen und holte ihm auch seinen Bierkrug. Dabei warf sie ihm heimlich dankbare Blicke zu. Das mahnte William daran, dass er mit dem Wirt reden musste. Nicht dass der auf die Idee kam, seine Wut später an ihr auszulassen.
»Mir hat die Eisenbahn die Arbeit geklaut«, sagte einer der Männer. Er trug eine blaue, uniformähnliche Jacke. »Ich arbeitete als Fuhrmann. Seitdem die Eisenbahn nach Potsdam fährt, hänge ich hier rum.«
»Er übertreibt etwas«, warf Danner ein. »Da würde er seit Jahren herumsitzen. Er war zuletzt Werksfahrer und transportierte Teile in der Fabrik von einer Halle zur anderen. Nachdem weniger produziert wird, brauchen die feinen Herren seine Dienste nicht mehr. Wir lassen uns das nicht länger bieten.«
William sah die Männer der Reihe nach an.
»Du scheinst mir ein rechter Kerl zu sein«, fuhr Danner fort. »So wie du dich für Judith eingesetzt hast. Ich dachte erst, du seist ein Spitzel.«
»Wie kommst du da drauf?«, fragte William.
»Weil der dir da gefolgt ist.« Er deutete auf den Gast, der sich zu ihm gesetzt hatte. Der las in seiner Zeitung.
Danner stand auf, ging schnurstracks auf den Mann zu und riss ihm die Zeitung aus der Hand.
»Du elender Spitzel«, dröhnte der Blonde.
»Ich bin kein …«
»Raus!«, brüllte Danner und stieß ihn zu Boden.
Der Mann stand auf, hob seine Mütze auf und eilte hinaus.
Der Blonde kam zurück. »Er ist dir gefolgt, Schach hat es gesehen.« Dabei deutete er auf den Mann mit der karierten Schirmmütze.
»Hast du einen Namen?«, fragte er William, als er wieder Platz nahm.
»Ich heiße William Garrison Euskirchen.«
»Hast ‘nen komischen Namen«, meinte einer. »Arbeitest du hier?«
»Ich habe ein paar Jahre drüben in Amerika gelebt.«
Die Erwähnung Amerikas löste bei den Männern ein Raunen aus. Sie rückten näher.
»Gibt es drüben anständigen Lohn?« fragte einer. Weitere Fragen prasselten auf William ein. Stimmte das mit dem Essen? Gab es wirklich jeden Tag ein saftiges Stück Fleisch? Auch für Arbeiter? Konnte man heiraten wen und wann man wollte? William beantwortete geduldig Frage um Frage, währenddessen er seine Brühe aß.
Danner presste seine Lippen zusammen.
»Herrgott nochmal!«, brach es aus ihm heraus. »Ich habe euch alles über Amerika erzählt. Was glotzt ihr alle auf unseren neuen Freund?«
»Er war wirklich drüben«, sagte der ehemalige Kutscher. »Du kennst das Land nur vom Hörensagen.«
Danner lief rot an. »Unsereinem geht es überall besser. In Preußen nähren wir die Pfaffen, Fürsten und Fabrikbesitzer. Sie werden fetter und fetter.«
Vielstimmiges Gemurmel antwortete ihm.
Danner hob die Hände. »Ich sage euch, es dauert nicht mehr lange und wir holen, was uns zusteht.«
»Wie soll das gehen?«, fragte der, den Danner als Jan vorgestellt hatte. »Sobald wir aufmucken, sorgen sie mit dem Bajonett für Ruhe.«
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