Als er einmal herum war stand er auf der Höhe einer Reihe Schornsteine, die Zigarren gleich in die Höhe wuchsen. Nur vereinzelt quoll dunkler Rauch aus ihnen empor. Hatte Reichenbach nicht gesagt, dass die Geschäfte schlecht gingen? Rechts der Schornsteine standen nur wenige Häuser, noch weiter draußen schienen es mehr Baracken zu sein, bis schließlich Äcker und Wiesen kamen.
Der Kirchendiener in seinem Rücken musste eben heftig niesen und schnäuzte in ein Taschentuch. William tränten die Augen.
»Zeit zu gehen«, sagte er an Fröbel gewandt, »bevor wir uns hier oben eine Lungenentzündung holen.«
Sie stiegen schweigend hinunter.
»Sie dürfen jederzeit kommen, wenn sie wieder hoch möchten«, sagte Fröbel als sie unten anlangten.
»Vielen Dank!«, entgegnete William. »Ich werde in meinen Berichten diesen unvergesslichen Anblick schildern.« Er reichte Fröbel zum Abschied seine Hand.
In Gedanken versunken schlenderte William zurück Richtung Jägerstraße. Erst vor dem Schloss blieb er stehen, betrachtete es ausgiebig.
»So was habt Ihr nicht in den Staaten?«, fragte jemand hinter ihm.
Es war das rothaarige Dienstmädchen der Reichenbachs. In den Händen hielt sie einen Korb mit Kartoffeln.
»Nein, Schlösser habe ich in den Staaten nicht gesehen.«
»Ist es wirklich wahr, dass es bei euch keinen König gibt?« fragte sie, als sie weitergingen.
»Das ist wahr«, sagte William. »Und keinen Grafen oder dergleichen. Niemand verbeugt sich vor jemandem.«
»Das glaube ich nicht!«, zweifelte sie.
»Dennoch ist es so. Wobei …« Er blieb stehen und kratzte theatralisch sein Kinn.
»Wusste ich es doch!«, triumphierte das Mädchen.
Er fuhr fort: »In den Vereinigten Staaten wählen alle erwachsenen Männer einen Präsidenten. Der regiert dann fünf Jahre, und wenn er seine Arbeit gut macht, dann wird er für weitere fünf Jahre gewählt. Danach darf ein anderer sein Geschick unter Beweis stellen. Jeder kann Präsident werden. Sogar ein, ein … ein Dienstbote.«
Sie lachte lauthals los. Die Passanten sahen sie an.
»Wie heißt du?«, fragte er. Die vertrauliche Ansprache schien ihm gerechtfertigt. Im Umgang mit dem Dienstmädchen fühlte er sich wohler als bei den Reichenbachs am Esstisch.
»Clara«, antwortete sie, immer noch glucksend.
»Ein Dienstmädchen muss nicht ein Dienstmädchen bleiben. Jeder kann etwas aus seinem Leben machen. Man muss es nur wollen«, beharrte William.
»Och, wollen täte ich schon«, sagte Clara. »Jedoch, das ist gegen jede Ordnung! Wer soll dann dienen? Es muss ein Oben und Unten geben. Nee! Ich werde einen Handwerksmann heiraten, Kinder großziehen, aber immer jemandem zu Diensten sein.«
»Ich will den Menschen die Wahrheit nahebringen«, sagte er.
Sie nickte. »Ich lese kaum Zeitung, weil da nichts über unsereiner drinsteht. Außer jemand hat geraubt oder gemordet.«
»In den Staaten kommen alle zu Wort. Natürlich ist es kein Paradies, denn noch gibt es die Sklaverei.«
»Ich habe mal ein Bild eines Sklavenschiffs gesehen«, sagte Clara. »Da lagen die Schwarzen wie Vieh aneinander gekettet.«
»Es gibt viele, die Sklaverei für Unrecht halten. So wie ich. Leider gibt es beinahe ebenso viele, die das anders sehen.«
»Unsereiner liegt zumindest nicht in Ketten«, sagte Clara.
»Wie kommst du nach Berlin?«, fragte er. Ihm war aufgefallen, dass sie kein Berlinerisch sprach.
»Mein Vater ist mit Herrn Reichenbach bekannt. Als er ihn fragte, ob er mich nicht in Dienst nehmen könne, tat er das gern. So bin ich in Berlin, und nicht mehr in meinem kleinen Heimatdorf. Nächsten Monat werde ich achtzehn.«
Sie gingen weiter.
»Darf ich den Korb tragen?«, fragte William.
»Nee, das können wir nicht machen«, lehnte sie sein Angebot ab.
Sie erreichten den weitläufigen Gendarmenmarkt. Auf Höhe des Theaters blieb Clara stehen. William folgte ihrem Blick und sah einen Mann, der ein Plakat an eine Hauswand klebte. Immer wieder blickte er über die Schulter. So entdeckte er rechtzeitig die beiden Gendarmen, die um die Ecke bogen.
»Halt!«, rief der eine.
»Gleich haben sie ihn«, mutmaßte Clara.
Der Mann ließ eine Dose fallen, die scheppernd auf das Pflaster fiel. Ein kleiner Pinsel ragte heraus. Der Flüchtende stieß die Passanten zur Seite, kam direkt auf sie zu, die beiden Beamten im Nacken. Kurz bevor er sie erreichte, verlor der Mann seine Mütze und ein Papier. William schob Clara zur Seite, öffnete eine Gasse und verschloss diese, kaum dass der Mann durch war, indem er sich beugte und Papier und Mütze aufhob. Damit verstellte er den Beamten den Weg. Der eine streifte ihn an der Schulter, der andere lief von hinten auf seinen Partner auf. Sie verloren den Plakatkleber aus den Augen. Einer der Beamten funkelte William böse an. Der zuckte mit den Schultern. Papier und Mütze hatte er unter seiner Jacke verborgen.
Die Beamten gingen zurück an die Hauswand und rissen dort das Plakat herunter.
»Das ging noch einmal gut«, murmelte Clara.
William zog das Papier heraus und las:
Diese Woche im Arbeitshaus verhungert
Jan F. 7 Jahre alt
Sophie M. 26 Jahre alt
Charlotte B. 64 Jahre alt
Wir danken Seiner Majestät
»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte er zu Clara. »Frau Reichenbach wird ohne meine Gesellschaft auskommen. Ich will mir die Familienhäuser anschauen.«
Er dachte an das Buch, das ihm Reichenbach gegeben hatte. Heute musste es dort bestimmt besser sein.
»Da gibt es reichlich Gesindel«, sagte Clara.
»Und vielleicht die, die das hier geschrieben haben.« Er tippte auf das Papier.
»In jeder Spelunke stecken sie ihre Köpfe zusammen und debattieren«, erzählte Clara. »Alle träumen von der großen Revolution. Sogar …«
»Sogar …?«, fragte William.
»Ich muss weiter, bevor die Dame mich vermisst«, wich sie aus.
»Ob ich da etwas zum Essen bekomme?«
Clara blickte auf seine Narbe.
»Ich war mal im Bierkeller . In der Ackerstraße. Da verkehren hauptsächlich Maschinenarbeiter. Raufereien sind dir nicht fremd, du wirst dich zu wehren wissen.«
***
William überquerte erneut die Spree und bog nach links ab. Die Häuser verloren mehr und mehr an Glanz, die Auslagen der Schaufenster wurden schlichter. Vor einer Toreinfahrt saß ein älterer Mann auf einem Schemel, vor ihm stand ein hölzernes Gestell. Er nickte William zu.
»Saubere Schuhe, der Herr?«
»Warum nicht.«
»So zeigen Se mal her, wat Se haben.«
William stellte einen Fuß auf das Gestell.
»Das sind prächtige Stiefel«, lobte der Mann. »Ick mach die fein.«
Der Mann schrubbte und polierte erst den einen, dann den anderen Stiefel.
»So, jetzt brauchen Se keinen Spiegel mehr«, lobte der Schuhputzer selbst seine Arbeit.
Er gab ihm ein paar Münzen.
»Danke, herzlichen Dank«, rief ihm der Mann hinterher.
Kaum dass er weiterging, traf William auf einen
Zeitungsjungen. Er winkte ihn heran und gab ihm ebenfalls ein paar Münzen.
»Wollen Sie zwei Exemplare?«, fragte der.
»Nein, der Rest ist für dich.«
Mit einer Ausgabe der Königlich privilegirten Berlinischen Zeitung unter dem Arm ging er weiter. Einem entgegenkommenden Lumpensammler wich er aus. Dessen Leiterwagen rumpelte über die Schlaglöcher der Straße. Der Mann trug nur Lumpen. Hier führte keine feine Dame ihren Sonnenschirm aus. Herrenlose Hunde streunten umher und beschnüffelten den Unrat an den Rändern. Männer saßen vor Hauseingängen und glotzten ihn stumm an. Andere saßen zusammen mit Frauen, lachten oder stritten.
Er erreichte das Hamburger Tor. Dahinter, so meinte William, roch es anders. Das mochte an den Schornsteinen liegen, die unweit davon dunkle Schwaden in den Himmel bliesen. Gleich zur Linken stand ein langgestrecktes Gebäude. Das musste eines der Familienhäuser sein, von denen er im Königsbuch der Bettina von Arnim gelesen hatte. Dort hausten Familien in kleinen, etwa zwanzig Quadratmeter großen Kammern.
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