Gertran nickte. „Menschlich, männlich, weiblich – ich denke, man könnte dort alles finden. Und ich denke, es wird höchste Zeit, danach zu suchen.“ Die Alte sah Aurun bei diesem letzten Satz an, sah ihr eindringlich in die Augen. Aurun bemühte sich standzuhalten und den Blick nicht abzuwenden.
„Höchste Zeit!“, wiederholte Gertran beschwörend.
„Kann ich vielleicht noch etwas Tee haben?“, fragte Aurun, um den unangenehmen Moment zu beenden.
Doch Gertran goss ihr nicht nach, sondern wuchtete sich mühsam in die Höhe und ging zum Fenster. Sie blieb dort schweigend mit dem Rücken zum Raum stehen, bis Aurun schließlich aufstand und sich neben sie stellte.
Zur selben Zeit saß Xylon Xojor unten im Erdgeschoss in seinem Büro neben dem Eingang. Es hatte sich den alten Kopfhörer mit dem zur Hälfte zerbrochenen Bügel über den blanken Schädel geschoben und versuchte zu verstehen, was in Raum Nummer 107 gesprochen wurde. Man erwartete von ihm, dass es Bescheid wusste. Die Gemeinschaft der Kleinen Leute hatte es auf Grund seiner überragenden Fähigkeiten zum Leiter dieses Separationshauses bestimmt und es würde diese Arbeit so gut machen, wie man es von ihm erwartete. Gute Arbeit bedeutete, weiter aufzusteigen. In die Verwaltung der Stadt, in die Organisation der Gemeinschaft, in die Regierung. Wer oder wo das genau war, wusste Xylon Xojor nicht und es interessierte sich auch noch nicht dafür. Früh genug würde es seinen nächsten Einsatzort kennen lernen, vorausgesetzt, hier ginge alles seinen vorgesehenen Gang.
Bestimmte Individuen wurden ihm überstellt, weil sie auffällige Mutationen aufwiesen. Es galt sicherzustellen, sie vom Rest der Gemeinschaft getrennt zu halten. Das war der vorgesehene Gang. Es gab Bewohner, die keine Probleme machten, und es gab Bewohner wie Gertran Ewinewi. Um Aufruhr zu vermeiden, musste man solche Individuen im Auge behalten. Musste erfahren, mit wem sie was zu besprechen hatten, was sie planten, mit wem sie Kontakte knüpften. Man musste spähen und lauschen und Berichte schreiben. Genaue Berichte, mit Datum und Uhrzeit, musste sie schreiben und verschicken an die, die entscheiden würden, was zu tun sei.
Es gab einen Boten, der einmal am Tag kam und seine Berichte vom Separationshaus in Empfang nahm und weiterleitete. Gute, ausführliche Berichte bedeuteten gute Arbeit. Gute Arbeit bedeutete, weiter aufzusteigen. Und das war es, was Xylon Xojor antrieb. Aufsteigen und besser sein als die anderen. Mächtiger sein. Xylon hatte von seinem Sitz aus die Eingangstür im Blick. Konzentriert lauschte es den Stimmen in seinem Kopfhörer und konnte doch sicher sein, dass niemand das Haus betreten oder verlassen konnte, ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen.
X-Klone konnten ihr Gehirn auf mehrere Dinge zugleich konzentrieren. Jedes Mal, wenn eines an seinem großen Sichtfenster vorbeiging, sah es auf die Uhr und merkte sich die Zeit. Und am Ende des Tages schrieb es eine Liste mit all den Namen und Zeiten, ohne sich nur ein einziges Mal zu irren, und legte sie seinem Tagesbericht bei. Zugleich lauschte es den Stimmen aus dem Kopfhörer und schrieb nieder, was der Problembewohner Nummer eins, Gertran Ewinewi, dem neuen E-Klon Aurun Ebanan erzählen zu müssen glaubte.
Sie planen Bottom, das Heilige, zu suchen!, schrieb Xylon, während es zugleich weiterlauschte und zur Tür hinsah und so versuchte das zu tun, was von ihm erwartet wurde.
„Dort draußen, die Stadt, das ist alles, was du kennst, oder?“, fragte Gertran gerade. Sie stand mit Aurun vor der bodentiefen Scheibe und sah hinaus.
Aurun nickte.
„Dort irgendwo in den Ruinen hat dein Preklon dich aufgezogen, dort bist du zur Schule gegangen. Hast du dich nie gefragt, was außerhalb dieser Stadt ist?
„Doch, schon. Ich …“
Aber Gertran ließ sie nicht zu Wort kommen.
„Hast du dich nie gewundert, woher diese vielen alten Häuser kommen? Riesengroß, viel größer, als wir sie brauchen. Viel mehr als wir brauchen. Wenn eines zusammenbricht, nehmen wir einfach das nächste. Niemand baut neue Häuser, neue Straßen. Alles stammt aus dem Megaho.
Unter der Stadt laufen riesige Tunnel, durch die früher Züge fuhren, weißt du das? Sie hatten Brücken, die über das Meer reichten, und Maschinen, die fliegen konnten. Überall finden wir solche großartigen technische Einrichtungen, aber fast nichts funktioniert mehr. Alles ist zerfallen. Und niemanden stört es. Wir leben in all dem, als sei es schon immer so gewesen und als würde es nie anders werden. Sind wir Tiere? Warum fragt keiner nach den Ursprüngen, nach den Gründen? Warum schaut niemand in die Sonne? Warum haben die Megahomos so etwas gebaut? Und wie haben sie es gebaut? Und warum hat das alles aufgehört? Stell dir diese riesige Stadt vor, voll von großen Menschen, die gemeinsam dies alles geschaffen haben. Ist das nicht wundervoll?“
Aurun unterbrach sie mit fester Stimme: „Ich habe darüber nachgedacht, Gertran. Schon oft! Doch in der Schule haben wir gelernt, dass der Megahomo sapiens ein gemeinschaftsunfähiges Wesen war, unfähig seine Welt zum Überleben zu organisieren. Und wenn ich Elbon darauf angesprochen habe, hat es nur gesagt, man könne nicht alles verstehen, aber unsere Wissenschaftler arbeiteten daran, all diese Geheimnisse aufzuklären.“
„Unsere Wissenschaftler! Pah! Deren größter Ehrgeiz ist es doch, uns immer wieder einzubläuen, wir seien diesen Megahomos in jeder Hinsicht meilenweit überlegen. Aber ist es nicht offensichtlich, dass all dies Lüge ist? Dass in Wirklichkeit wir, mit unseren armseligen Kommunikatoren, unserer Wissenschaft, die mit Mühe das Klonen beherrscht, und dem bisschen funktionierender Elektrizität die wahren Nieten sind? Diejenigen waren die Genies, die Fluggeräte, Züge in Tunnel, riesige Stahlschiffe, Denkmaschinen, bis zum Himmel reichende Häuser und kilometerlange Brücken erdacht und gebaut haben! Und die vielleicht sogar uns geschaffen haben! Kann es nicht sein, dass wir all das gar nicht so richtig wissen sollen?“
Aurun dachte nach. Dann nickte sie. „Ja, vielleicht. Vielleicht hast du Recht, vielleicht ist es so. Vielleicht sind wir die Nieten und sollen es nur nicht wissen– was ich schon in der Schule nie verstanden habe“, fuhr sie fort, „es ist doch alles da. Wir könnten ja alles anschauen, könnten alles nachmachen, lernen. Bloß scheint es niemandem wichtig zu sein. Warum? Andererseits – leben wir nicht auch ohne das alles?“
Gertran nickte erregt. „Wir leben, das ist wahr. Aber das ist es dann auch schon, mein Kind. Wir sind so furchtbar satt. Nichts interessiert uns, nichts wollen wir verbessern, nichts treibt uns. Und das führt zur wesentlichen Frage: Was hat uns eigentlich so satt gemacht? Oder andersherum, wenn du mein Bild verstehst: Was machte den Megahomo sapiens so hungrig, dass er all dies erschaffen musste?“
Gertran war zurück zu den Polstern gelaufen, hatte sich schnaufend fallen lassen. Aurun stand noch am Fenster, sah hinaus. Sie fühlte plötzlich, dass sie dort hinaus musste, in die Stadt, und weiter. Weiter, um zu sehen, um zu lernen. Vom wirklichen Leben zu lernen, nicht von dem, was sie ihnen in der Schule als das Leben verkauft hatten.
„Ehrlich gesagt“, sagte sie, ohne sich zu Gertran umzudrehen. „Ehrlich gesagt fühle ich mich persönlich gar nicht so satt. Mein Preklon, ja, vielleicht. Viele andere, die ich kenne. Die meisten eigentlich. Aber ich nicht, noch nie. Ich wäre immer lieber irgendwo dort draußen gewesen. Da draußen in der Welt.“
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