In der Welt der Menschen geschah, was geschehen musste, weil die Menschen so waren, wie sie immer schon waren.
Die Gemeinschaft der Kleinen Leute ist anders. Denn diese kleinen Menschen, die Kleinen Klone, sind anders. Anders als die großen Menschen waren.
Sie sind kleinwüchsige, großköpfige Geschöpfe ohne Geschlecht. Mit acht Jahren sind sie ausgewachsen und dann werden sie alt – sehr alt.
Hass und Angst, Aufregung und Verzweiflung sind ihnen fremd.
Sie scheinen intelligent, rational und vernünftig.
Zeitgemäß gesagt: cool – so cool, wie die großen Menschen es immer sein wollten.
Aurun, das junge Klon, kannte die Unterschiede zwischen Klonen und Menschen nicht. Wie sollte es auch? Menschen hatte es nie getroffen, denn in dieser Welt des Jahres 244 neuer Zeit gab es den Megahomo sapiens nicht mehr. Aurun kannte nur, was um es und was in ihm war und das war bisher einfach zu verstehen und leicht überschaubar gewesen.
Aber an diesem schier endlosen Tag im Frühjahr lernte Aurun – ohne es zu wissen oder zu begreifen – etwas von den Gefühlen kennen, welche die Menschen einst umtrieben. Es war die Verwunderung, die Menschen immer dann ergriff, wenn sie unerwartet Neues erlebten. Und das Entsetzen, das sie manchmal dann befiel, wenn sie erkannten, was es war.
Der uralte Bus schlingerte in Schlangenlinien um die gröbsten Schlaglöcher. In andere krachte er mit lautem Getöse, sodass Aurun die Kiefer fest aufeinander beißen musste, um keinen Zahn zu verlieren.
Der kleine Fahrer thronte auf einer Sitzerhöhung, damit er über das Lenkrad schauen konnte. Die Pedale hatte man mit primitiven Stangen und Hebeln bis zur Höhe seiner Füße verlängert. Bei jedem Schlagloch krallte er sich am Steuer fest, um nicht von seinem wackeligen Thron geschleudert zu werden.
Das blonde, siebenjährige, schon fast erwachsene E-Klon Aurun saß mit angezogenen Knien quer auf einem Sitz. Es klammerte sich mit seinen winzigen, wurstigen Fingern an die verrosteten Rohre der Sitzgestelle. Die kurzen Beine hatte es auf das Polster gelegt und stemmte sich mit den Füßen gegen eine der Stangen. Derart verkeilt konnte es sich einigermaßen sicher an seinem Platz halten. Und außerdem befand sich so die hohe Lehne der Sitzbank vor ihm wie ein Schild zwischen Aurun und seinem Preklon Elbon, welches ununterbrochen auf es einredete.
„Du wirst sehen, man kümmert sich dort um dich … Es wird schon seinen Sinn haben … So etwas wird nicht verfügt, wenn es keinen Sinn hat …“
Aurun starrte auf seine Fußspitzen, dann auf die gegenüberliegende Scheibe. Durch das Fenster konnte man zwischen Kratzern, Dreck und Schmierereien die Ruinen der großen Stadt erkennen. Zeit seines Lebens hatte das junge Klon noch nichts anderes gesehen als diese braunen Ziegelfassaden mit verrotteten Rahmen und zerborstenen Fensterscheiben, diese verrosteten Stahlskelette, von denen zum großen Teil die Betonverkleidungen abgefallen waren, und dazwischen die riesigen Schutthaufen, die entstanden waren, wenn einzelne Hochhäuser nach langen Jahren des Verfalls schließlich in sich zusammengestürzt waren.
Trotzdem kam es ihm auf dieser Fahrt so vor, als erblicke es all dies zum ersten Mal. Verwundert meinte es plötzlich zu fühlen, wie trostlos dieser Ort war. Meinte zu spüren, wie gefühllos die riesigen Ruinen mit ihren glaslosen Fenstern auf ihn hinunter starrten. Meinte zu erkennen, wie selbst die Straßen, die doch eigentlich dem Vorwärtskommen dienen sollten, jeden Passanten mit ihren Löchern, Gräben und Schutthaufen dort für immer festzuhalten suchten, wo er gerade war.
Aurun sah, fühlte, spürte, erkannte.
Bemerkte Verwunderung.
Warum war ihm das alles noch nie wirklich aufgefallen? Warum hatte es bisher immer alles nur so gesehen, wie es war: Ein Stein war ein Stein. Viele Steine waren ein Steinhaufen.
An diesem Tag aber sah es mehr: Ein Steinhaufen war ein zusammengefallenes Haus. Und jemand hatte dieses Haus einmal erbaut, bewohnt, geliebt, verloren. Mit einem Mal erfühlte das junge Klon die Geschichten hinter den Steinhaufen und es wunderte sich, denn Fühlen war kleinen Klone fremd – eigentlich.
Aurun war auf dem Weg in das so genannte Separationshaus. Dieses Haus sei ein Hochhaus, hatte es gehört. Aber eines von der besseren Sorte, sagte man. Genaueres war nicht zu erfahren, Gemunkel nur. Kein Gefängnis, aber geschlossen, ja. Nicht offen auf jeden Fall. Mehr wusste keiner, wollte keiner wissen.
Und es lag mitten in der großen Stadt, weit entfernt von dem Viertel, in dem Aurun sein bisheriges Leben verbracht hatte. Bisher hatte es nur dreimal mit seinem Preklon Elbon umziehen und sich ein paar Blocks weiter eine andere Unterkunft suchen müssen.
Man bewohnte eine Wohnung so lange, bis sie nicht mehr zu bewohnen war. Bis sich keine Glasscheiben mehr finden ließen, die groß genug waren, um sie über die Löcher in den Fenstern zu pappen, oder bis es keine Tür mehr gab, die man noch absperren konnte, weil alle Scharniere aus den morschen Rahmen gefallen waren. Mancherorts brachen Betten oder Schränke zusammen, in anderen Häusern zerbarsten die alten Wasserleitungen, bei wieder anderen stürzten von Regenfällen aufgeweichte Decken ein. Gelegentlich begruben sie einige der Bewohner unter sich, zumindest aber trieben sie alle diejenigen auf die Straße, die bisher dort untergekommen waren.
Aber wenn es dann so weit war, gestaltete sich die Suche nach einer neuen Bleibe nicht schwierig, meist endete sie irgendwo in der Nähe. In dieser riesigen Stadt lebten so wenige Klone, dass sich für jeden immer schnell wieder ein Plätzchen fand. Keine große Sache eigentlich, es gäbe Schlimmeres, hatte das Preklon jedes Mal bemerkt. Und ohne große Umstände hatten sie sich in einer anderen, besseren Wohnung eingerichtet.
Diesmal aber geschah etwas anderes. Diese ungewisse Geschichte mit der Separation verwirrte das junge Klon. Und obwohl es sich immer wieder mit ganz ähnlichen Sätzen zu beruhigen versuchte, wie sie das Preklon da eine Sitzbank weiter vorn unaufhörlich brabbelte, spürte Aurun plötzlich etwas in seinem Nacken. Ein Gefühl, das es bisher noch nicht gekannt hatte. Es war, als wenn eine eisige Kralle es dort packte und – so, wie der Bus es gerade äußerlich mit Auruns kleinem Körper tat – wieder und wieder schüttelte.
„Was ist nur los mit dir?“, murmelte eine Stimme in Auruns Kopf. Und ihm fiel auf, dass dieser Satz es die ganzen letzten Wochen hindurch begleitet hatte.
„Was ist los mit dir?“
Irgendetwas hatte sich in ihm verändert, das konnte es spüren. Warum war nichts mehr wie früher?
Elbon half ihm nicht weiter. Gab allenfalls Sätze von sich wie: „Es ist eben, wie es ist, Aurun!“
Aber vielleicht wusste das Preklon selber nicht Bescheid. Oder es wollte nichts wissen.
Veränderungen, Beunruhigungen, Stimmen im Kopf. Jetzt diese Separation. Eine Trennung vom Preklon. Und von allen anderen Wesen, die Aurun kannte. Wenn es darüber nachdachte, dass es am Ende dieser Busfahrt allein auf dieser Welt sein würde, merkte es, wie die seltsame Kralle in seinem Nacken fester zupackte und noch heftiger schüttelte. Es stemmte sich ein wenig im Sitz nach oben, um sein Preklon zu sehen.
Das Preklon bemerkte es und nickte ihm zu, ohne in seinem Redefluss zu stocken: „… wenn es verfügt wird, hat es seinen Sinn. Sonst würde man es nicht verfügen. Es verursacht der Gemeinschaft der Kleinen Leute hohe Kosten, dich dort unterzubringen. Man würde das nicht tun, wenn es keinen Sinn hätte. Wir sind der Gemeinschaft dankbar, dass dies geschieht. Wir müssen dankbar sein. Es soll ein schönes Haus sein. Du wirst sehen …“
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