„Ihre Raumnummer?“, fragte es.
Aurun überlegte einen Moment. „Raumnummer? Ich glaube, ich weiß sie nicht. Ist das wichtig?“
„Ohne Raumnummer können Sie hier nicht essen!“
„Aber Sie haben doch gerade meinen Chip gescannt?“, fragte Aurun verwundert.
„Sie können ohne Raumnummer hier nicht essen, so sind die Regeln!“
Aurun versuchte sich zu erinnern. „Es ist auf der dreiundvierzigsten Ebene. Dreiundvierzig-Einhundertzwölf vielleicht? Ich weiß nicht genau, ich bin ganz neu hier!“
„Dann fahren Sie wieder runter und sehen nach, welche Nummer auf der Tür steht, die ihr Chip öffnet. Bedaure, ohne Raumnummer kein Essen!“
Hinter Aurun hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Plötzlich kam von dort eine Stimme: „Du hast bestimmt Dreiundvierzig-Einhunderteinundzwanzig!“
Aurun drehte sich um. Ein älteres, übergewichtiges Klon stand dort, von den Gesichtszügen her wahrscheinlich ein E. Es ermunterte Aurun mit freundlichem Kopfnicken, es mit dieser Nummer zu versuchen.
„Dreiundvierzig-Einhunderteinundzwanzig“, sagte Aurun also.
Das X-Klon gab die Nummer ein. „In Ordnung!“ Es drückte die Schranke zur Seite und ließ Aurun passieren.
Unsicher zwischen all diesen fremden Klonen, die schwatzend und schmatzend an den Tischen saßen, suchte Aurun sich etwas zu Essen am Büfett aus. Dann setzte es sich an einen freien Tisch und hielt vorsichtig nach dem älteren Klon Ausschau. Aber Aurun war schon entdeckt worden. Quer durch den Raum kam das dicke Klon fröhlich dahergewatschelt, balancierte umständlich das übervolle Tablett und setzte es etwas unsanft auf dem Tisch ab. Es streckte Aurun die Hand entgegen.
„Gegrüßt! Gertran Ewinewi“, stellte es sich vor.
„Gegrüßt! Aurun Ebanan – woher wussten Sie meine Raumnummer?“
„Geraten! Ich bin auch auf Ebene Dreiundvierzig. Und die Hunderteinundzwanzig ist seit letzter Woche frei – also ganz naheliegend.“ Wieder, wie schon vorhin an der Schranke am Eingang, lächelte es. Es gab wenig Klone, die lächelten. Ungeschickt versuchte Aurun zurückzulächeln.
„Ich habe mir gleich gedacht, dass Sie ein E sind“, sagte Aurun, nachdem sie eine Weile still gegessen hatte.
Gertran lachte. „Und ich habe gewusst, dass du ein E bist! “, sagte es selbstsicher.
„Gewusst?“
Gertran nickte. „Schau, Mädchen! Ich bin einhundertzweiundsiebzig Jahre alt. Da gibt es manche Sachen, die sieht man auf den ersten Blick. Da braucht man keinen zweiten.“
Aurun starrte das alte Klon an. Es wagte nicht, zu antworten.
„Na, was ist? Erstaunt dich mein Alter? Du hast doch sicher schon gehört, dass es manche sehr Alte in einigen Klonfamilien gibt. Hast aber noch nie eines getroffen, was? Hast gedacht, Alte sehen auch richtig alt aus, was? Hat es dir die Sprache verschlagen?“
Aber es war gar nicht das hohe Alter. Etwas ganz anderes hatte Aurun erschreckt. Dieses Wort, das Gertran Ewinewi so selbstverständlich ausgesprochen hatte.
Erst nach einer Weile traute Aurun sich schließlich leise zu fragen: „Was sagten Sie zu mir? Mädchen?“
„Oh! Hab ich das? Entschuldigung! Du bist ja wirklich ganz neu hier!“ Wieder lächelte Gertran, erklärte aber nichts, sondern schlang fröhlich und gierig sein Essen hinunter. Ab und zu guckte es mit seinen kleinen, lebendigen Schweinsäuglein zu Aurun hinüber.
Etwas in Aurun riet ihm, vorsichtig zu sein. Still aß es, dann stand es wortlos auf und wollte seinen Teller wegräumen. Da hielt Gertran es zurück.
„Warte, Aurun. Ich wollte dich nicht erschrecken. Du hast nichts von mir zu befürchten. Wollen wir uns treffen, später?“
Aurun zuckte die Schultern. „Von mir aus“, sagte es matt.
„Ich rufe dich an! Morgen Früh. Sehr früh! Ist das Recht? Ich möchte dir etwas zeigen!“
„Von mir aus“, sagte Aurun wieder. „Gegrüßt!“ Dann ging es.
In dieser Nacht schlief Aurun wenig. Seltsame Dinge passierten in seinem Kopf. Schlaf doch ein, dachte es immer wieder. Was soll denn schon sein? Du schläfst ein und wachst auf und nichts ist anders. Du schläfst ein als Aurun Ebanan und erwachst als Aurun Ebanan. Du schläfst ein und die Nacht geht ihren Gang, wachst auf und …
Aber nichts ging seinen Gang. Alles war hier so anders, so fremd. Sie hatten die Möbel ins Zimmer gebracht, fremde Möbel, ein fremdes Bett, eine fremde Wanduhr mit fremden Ticken. Vor einem fremden Fenster eine fremde Welt. Fremdes Licht, fremde Gerüche, fremde Geräusche. Alles war plötzlich anders, alles! Und ich bin anders, dachte Aurun. Anders als die anderen. Warum? Warum separiert man mich? Nichts geht seinen Gang! Wenn alles anders ist und ich bin anders, dann geht doch nichts seinen Gang, oder?
Als es zum letzten Mal auf seine neue Wanduhr sah, war es kurz nach vier. Am Himmel im Osten, über dem Meer, ahnte man schon die Dämmerung.
Dann weckte es das penetrante Piepen des Hauskommunikators.
Die Stimme am anderen Ende war ohne Zweifel das alte Klon mit Namen Gertran. Ohne darauf zu warten, was Aurun müde dahinnuschelte, sagte es: „Wir machen einen Ausflug ins Grüne – ich hole dich in zehn Minuten ab!“ Dann unterbrach es die Verbindung.
Aurun sprang erschrocken aus dem Bett und zog sich etwas über. Warum gehe ich eigentlich mit, dachte es, und wohin eigentlich, wenn wir doch das Haus ohnehin nicht verlassen dürfen?
Kurz danach ertönte der Türsummer. Gertran Ewinewi stand da – lächelte. Es sah genauso aus wie am Abend beim Essen, feist und fröhlich, wirkte nicht verschlafen oder müde.
„Es tut mir so Leid!“, sagte es. „Ihr Jungklone braucht immer viel Schlaf, ich vergesse das manchmal. Aber das, was ich dir zeigen will, sieht man nur so früh – also komm mit!“
Aurun tappte müde hinter Gertran zum Aufzug in der 44. Ebene, dort drückte das Alte auf die oberste Taste, 31. Stock, Ebene 62.
„Warum fahren wir hoch?“, fragte Aurun verschlafen. „Ich dachte, Sie wollten mit mir ins Grüne?“
„Abwarten!“, meinte Gertran nur.
Als sich die Aufzugtüren wieder öffneten, standen die beiden Klone in einem muffigen, schmutzigen, dunklen Gang, von dem seitlich einige Türen abgingen. Ein paar Oberlichter ließen die Morgendämmerung durch verdrecktes, vergittertes Glas hineinsickern. Hier schien lange Zeit niemand mehr gewesen zu sein, und wenn doch, dann bestimmt nicht zum Saubermachen. Es war nicht unbedingt der Ort, den Aurun freiwillig aufgesucht hätte. Aber Gertran führte das junge Klon bis zur letzten Tür des Ganges, dann zog es einen kleinen Schlüssel aus der Tasche.
„Hab ich einem X geklaut“, sagte es. „Xe verstehen das hier oben nicht, also brauchen sie auch keinen Schlüssel, finde ich.“
Es schloss im Dunklen zielsicher die Tür auf und an der frischen Luft, die hereinströmte, erkannte Aurun, dass sie ins Freie gelangten. Ein paar Stufen führten nach oben, schnaufend stapfte das dicke Gertran voran, Aurun folgte leichtfüßig. Dann standen sie im Halbdunkel auf dem Flachdach des Hauses unter freiem Himmel.
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