Aurun ließ sich wieder auf den Sitz zurücksinken. Das Preklon redete manchmal viel, wie alle E-Klone, aber so ohne Unterlass wie auf dieser Fahrt? Das war nicht seine Art. Aurun wunderte sich darüber.
Es wunderte sich und spürte zugleich, dass dieses Sichwundern, das Fragenstellen und Grübeln in Zukunft fest zu seinem Leben gehören würden.
Plötzlich blieb der alte Bus mit einem Ruck stehen.
„Aussteigen!“, rief der Fahrer.
Aurun sah nach vorne. Dort war die Straße von großen Schutthaufen versperrt. Aurun und sein Preklon Elbon rutschen von ihren Sitzen auf den Boden und liefen zum Fahrer vor.
„Wir müssen hier hin!“, sagte Elbon und hielt dem Klon, das den Bus gesteuert hatte, den Bescheid mit der Adresse des Separationshauses vor die Augen.
Das Klon zeigt auf den Schutt vor ihnen. „Da drüber und dann weiter geradeaus!“, sagte es.
Die beiden mühten sich aus dem Bus – für einen Klon war das ein mächtiger Sprung, von der letzen Stufe bis zum Boden. Der Fahrer warf ihnen die Tasche hinterher, in der alles verstaut war, was Aurun gehörte. Viel war es nicht. Sie nahmen sie, jeder an einem Henkel, und hievten sie den Haufen aus Steinen und Abfall hinauf.
Als sie oben waren, sahen sie, dass auf der anderen Seite ein Weißer stand.
Weiße – so nannte man die X-Klone, die seit einigen Jahren für Ruhe und Ordnung in der Gemeinschaft der Kleinen Leute sorgten. Sie hatten eine sehr helle, fast durchsichtige Haut, keine Haare und trugen immer, wie eine Uniform, riesige weiße T-Shirts. Sie reichten bis zum Boden und wurden am Bauch von einem Gürtel gehalten, der genauso rot war wie ihre Augen.
„Gegrüßt!“, sagte das weiße Klon und hob die Hand zum Zeichen, dass sie stehen bleiben sollten.
Die beiden antworteten mit der unter den Kleinen Leuten üblichen Gruß- und Vorstellungsformel:
„Gegrüßt, Elbon Ebanan!“
„Gegrüßt, Aurun Ebanan!“
Das Weiße ließ die Hand sinken: „Es gibt hier keinen Durchgang, Sperrzone!“
„Aber wir müssen dort hin!“, rief Elbon und hielt dem Weißen den Separationsbescheid unter die Augen. Es las kurz, dann musterte es die beiden.
Sie sahen für Klone ganz normal aus. Man suchte sich zum Anziehen zusammen, was man fand, Hemden, Jacken, Hosen, Mäntel, Kleider, und schnitt ab, was zu lang war. Durch die lange Fahrt wirkten sie vielleicht ein wenig abgerissener und verdreckter als sonst, aber das störte in dieser Welt aus Schutt und Zerfall niemanden.
Das weiße Klon hatte lediglich die Aufgabe, alles zu melden, was an diesem Kontrollpunkt hinter dem Schutthaufen außer der Reihe war, und so kontrollierte es brav alles, was es sah, nur um dann festzustellen, dass nichts Anormales daran zu finden war. Es nahm ein kleines Gerät hoch und drückte es erst Elbon und dann Aurun gegen das linke Schlüsselbein. Es las die Nummer auf dem Gerät, verglich sie mit der Nummer auf dem Separationsbescheid und hielt dann Elbon mit einer Geste zurück.
„Es kann gehen, Sie nicht!“, sagte es und bedeutete Aurun mit dem Kopf weiterzugehen.
„Aber warum?“, fragte Aurun erschrocken.
Das Weiße sah es an: „Sicherheits-Sperrzone um das Separationshaus! Sicherheits-Sperrzonen dürfen nur von dem Personenkreis betreten werden, der sich durch eine schriftliche Anordnung zum Betreten der Sperrzone legitimieren und durch Auslesen seiner Chipnummer identifizieren kann!“
Aurun sah Hilfe suchend zu Elbon, das nun eifrig nickte: „Da siehst du, es ist für alles gesorgt. Man kümmert sich um deine Sicherheit. Du kannst jetzt gehen, du findest es. Es ist gleich da vorne. Gegrüßt!“
„Gegrüßt!“, murmelte Aurun und sah, noch immer entsetzt, seinem Preklon Elbon nach, das sich rasch umgedreht hatte und nun hinter dem Schutthaufen wieder verschwand.
„Es ist dort hinten! Das weiße Haus!“, sagte das weiße Klon und schob Aurun weiter.
Aurun stockte der Atem. Das Haus dort hinten war riesig und so hoch, dass es mit seiner Spitze an den Wolken zu kratzen schien.
Ein anderes glatzköpfiges X-Klon mit bleicher Haut und roten Augen begleitete Aurun auf sein Zimmer. Es half mit der Tasche, ließ sich den Neubezug des Raumes quittieren und überreichte die Einweisungspapiere und die Hausordnung. Aurun ließ alles ein wenig eingeschüchtert über sich ergehen. Xe waren größer und kräftiger als die übrigen Klone und der Blick ihrer starren roten Augen ließ Widerspruch nicht zu. Mit lauter Stimme verabschiedete sich das Weiße förmlich: „Wie gesagt, mein Name ist Xylon Xojor. Ich bin hier der oberste Ordnungshüter. Wenn Sie noch Fragen haben, ich bin in meinem Büro neben dem Eingang – gegrüßt, Aurun Ebanan!“
„Gegrüßt, Xylon Xojor!“, antwortete Aurun höflich.
Das X-Klon ging und schloss leise die Tür hinter sich.
Nun war Aurun allein. Es sah für eine Weile wie gebannt aus dem Fenster in der 43. Ebene auf die anderen Häuser herab. Etwas war passiert und Aurun bemühte sich vergeblich, es zu verstehen.
Irgendwo dort, in diesem Häusermeer, hatte es seine ersten Lebensjahre verbracht. Wie riesig und endlos das alles war. Und dann machte es eine Entdeckung: Dort hinten, erkennbar nur als dünne Linie am Horizont, war das Meer. Das Meer!
Einmal, vor unendlich langer Zeit, wie es ihm vorkam, war es einfach allein aufgebrochen und bis zum Meer gelaufen. Hatte Wellen an eine alte Hafenmauer krachen sehen, hatte Tang gerochen, Salz geschmeckt und die Gischt auf den Wangen gespürt. Und da war es nun wieder, das Meer, ein dünner Faden, der Verbindung hielt zwischen früher und heute.
Fast versöhnt mit seinem neuen Zuhause drehte sich Aurun vom Fenster weg.
Das neue Zimmer war groß und niedrig, viel niedriger als die Räume, die das E-Klon Aurun bisher mit seinem Preklon bewohnt hatte. Alle Wände waren kalkweiß gestrichen. Die Fensterrahmen aus mattsilbernem Metall reichten bis hinunter auf den Boden, ein sicheres Zeichen dafür, dass man dieses Haus aus der Megaho-Zeit umgebaut hatte. Aus einem Stockwerk hatten sie jeweils zwei gemacht. Das reichte für die Klone, die je nach ihrer Familien-Zugehörigkeit nur zwischen einem halben und einem Meter groß waren.
Die alte, riesige Aufzugkabine jedoch hielt weiterhin nur in den alten Stockwerken, denen mit geraden Nummern, auf der Ebene 43 hielt er nicht. Man fuhr zum Stockwerk 22, Ebene 44 und stieg die Treppen zur nächsten Ebene hinab. Umgekehrt stieg man am besten auf Ebene 42 hinunter und nahm von dort den Aufzug, wenn man das Haus verlassen wollte.
… das Haus verlassen wollte – Unsinn, dachte Aurun. Darüber nachzudenken war Gedankenverschwendung. Hatte dieses X-Klon Xylon Xojor nicht gerade erklärt, dass man das Haus nicht mehr verlassen dürfe? Alles Wichtige, hatte es gesagt, stände in der Hausordnung, die zu Lesen eine Pflicht sei. Nur so viel vorweg: Niemand von den Separierten dürfe das Haus verlassen.
Aurun sah sich um. Alles sah sauber aus, frisch renoviert. Von der Decke hing an einem Kabel eine funktionierende Lampe. Eingeschaltet vergiftete sie den weißen Raum mit grellem, grünbläulichen Licht.
Unübersehbar lagen die Hausordnung und die Einweisungspapiere mitten im Raum auf seiner Tasche. Aurun nahm die Broschüre zur Hand und begann zu lesen:
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