„Aurun! Was glaubst du, wo du bist? Dies ist ein Gefängnis, ist dir das nicht klar? Alle Zimmer werden überwacht und abgehört. Der einzige Ort, an dem man sich unterhalten kann, ist dieses Dach hier. Hier ist das Rauschen und Heulen des Windes so laut, dass ihre lächerlichen Mikrofone versagen. Vor allem heute!“ Sie lachte und drehte sich fröhlich im Wind, sodass ihr weites Kleid hoch flog. „Sonne und Wind – ist das nicht herrlich, Aurun?“
Sie gingen hinüber zur Bank und setzten sich.
„Du hast überlegt, dort hinunterzuspringen?“
Aurun schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Ich habe mir nur vorgestellt, wie es wäre. Aber ich will nicht sterben. Ich will leben.“
„Aber nicht hier, was?“
Aurun nickte.
„Ich will dir etwas sagen, Mädchen. Etwas, dass ich dir gestern nicht sagen konnte, weil die Ohren in den Wänden zu neugierig sind: Ich warte schon lange auf dich.“
„Auf mich?“
„Ja! Sagen wir, auf eine wie dich. Auf eine E-Klonin, die so eindeutig eine schlaue und mutige Frau ist, wie du das anscheinend bist. Als ich deinen Untersuchungsbericht gelesen habe, da …“
„Was? Du hast meinen Bericht gelesen?“
„Ja! Natürlich! Ich bin nicht allein, Aurun. Wir sind mehrere. Und es gibt da draußen ein paar, die anfangen zu verstehen. Die uns Berichte und anderes zuleiten, was eigentlich nicht für uns bestimmt ist, was auch immer – ich habe aus deinem Bericht gesehen, wie stark diese merkwürdige Mutation bei dir aufgetreten ist. Wir haben deine Zeugnisse gesehen, du warst schon als ganz Kleine außergewöhnlich. Mutig, neugierig, fleißig und frech.“
Aurun lachte. „Ja, meine Lehrer haben immer gesagt, ich bring sie noch ins Grab mit meiner Fragerei. Und mein Preklon wollte mich schon mehrmals weggeben, weil es dachte, es käme nicht mit mir klar.“
„Siehst du. All das ist uns auch aufgefallen. Wir wussten, dass du über kurz oder lang hier landen würdest.“
Aurun schüttelte verwundert den Kopf. „Das ist alles ein bisschen verwirrend.“
„Mag sein. Aber es braucht dich nicht zu interessieren, wer was woher weiß. Für dich gibt es nur eine Frage: Willst du den Rest deines Lebens hier bleiben oder nicht?“
„Aber das X-Klon sagte, es sei gar nicht für immer. Jeden Tag werden hier Leute entlassen, behauptet es.“
„Ja! Und es lügt nicht mal. X-Klone können übrigens nicht lügen, dazu fehlt ihnen die Fantasie. Sie können bestenfalls etwas verschweigen. Die Leute, die hier entlassen werden, werden vorher mit eigener Zustimmung neutralisiert. Sie operieren dir alle Anzeichen von Geschlechtsorganen heraus, dann bestrahlen sie dich so lange, bis du nur noch eine neutrale Klonmaschine bist. Danach kannst du gehen. Willst du das?“
Entsetzt schüttelte Aurun den Kopf.
„Deswegen noch einmal. Die Frage ist: Willst du hier raus?“
„Ja!“, sagte Aurun leise.
„Gut. Wir helfen dir, es dürfte nicht allzu schwierig sein. Die Xe haben gar nicht die Fantasie, zu vermuten, dass jemand ernsthaft fliehen will, so sehr glauben sie an ihre tolle Gemeinschaft. Aber es gibt eine Bedingung, Aurun!“
„Und zwar?“
„Jemand muss endlich versuchen herauszufinden, was Bottom ist.“
„Jemand?“
„Du!“
Aurun schwieg eine Weile.
„Ich habe mir schon so was gedacht“, sagte sie schließlich. Sie spürte ein wenig Stolz in sich, dass sie die sein sollte, die ausgewählt wurde, und zugleich Angst und Panik vor dem, was auf sie zukam. „Aber warum ich? Was versprecht ihr euch davon? Wohin kann ich schon gehen? Warum geht ihr nicht selbst?“
„Wir kommen nicht weiter, Aurun. Wir müssen endlich eine Verbindung zu diesem Jahr null herstellen, zu unseren Anfängen. Wir müssen endlich verstehen, woher unsere Gene kamen. Wir müssen unseren misslungenen Bauplan finden!“
„Aber warum ich? Ich habe Angst!“ Sie war aufgesprungen und schrie jetzt fast. „Warum ausgerechnet ich?“
„Sieh mich doch an, Aurun. Ein dickes, fettes, altes Klon, das ist es, was ich bin. Glaubst du wirklich, ich könnte ein solches Abenteuer überstehen?“
„Und die anderen?“
„Die anderen! Es sind nicht viele. Die meisten sind sehr alt. Viele längst überwacht oder separiert. Das müssen Junge tun, Aurun. Junge – wie du.“
Aurun lief jetzt so aufgeregt auf dem Dach hin und her, dass Gertran Angst bekam, sie könnte hinunterfallen.
„Setzt dich wieder, Mädchen“, sagte sie. „Kein Grund, sich aufzuregen. Du wirst nicht allein sein.“ Sie drückte mit dem Finger auf das Amulett unter ihrem Kleid und prompt begann Auruns Amulett zu summen. „Siehst du – wir kümmern uns um dich, so gut wir können.“
Aber Aurun wollte sich nicht setzen. Sie lief weiter aufgeregt auf dem Dach herum, wenn auch etwas langsamer und vorsichtiger.
Gertran erhob sich mühsam. „Ich gehe jetzt“, sagte sie. „Rufe mich einfach, wenn du dich entschieden hast.“ Und damit schlurfte sie davon.
Erst lange nachdem die Alte gegangen war, konnte Aurun sich langsam beruhigen und setzte sich wieder auf die windschiefe Bank.
Stundenlang saß sie dort, starrte hinunter auf die Straßen, hinüber zum Meer, hinauf zu den Wolken.
Aurun Ebanan, das bin ich, dachte sie. Geklont aus einer einzigen Zelle meines Preklons Elbon – wenn es denn stimmt. Denn ich bin so anders als Elbon. Aber mein Anderssein ist eine Mutation, glauben sie. Eine sprunghafte Veränderung im genetischen Bauplan. Organe wachsen in meinem Bauch, die dort nicht hingehören. Aber hat dieser Bauplan auch Macht über meine Gedanken?
Sie sah sich fünf Jahre zuvor: der erste Schultag, eine Reihe Kinderklone, davon viele dieser robusten rothaarigen D-Klone, ein paar A, ein paar blonde E wie sie selbst, die sich schon am ersten Schultag zusammenfanden.
E-Klone hatten immer das Gefühl, etwas Besseres zu sein. Kein Wunder, praktisch alle Lehrer, Forscher und Wissenschaftler waren E-Klone, so erzählte man. Sie waren zuverlässig und genau, sie waren intelligent und verstanden sofort, was man von ihnen wollte.
Die As waren hübsch anzusehen mit ihrem rabenschwarzen Haarschopf. Sie waren nett, unterhaltsam, gut im Sport, aber wenn sie erzählen sollten, was sie drei Wochen zuvor gelernt hatten, hatten sie die Hälfte schon wieder vergessen. Sie waren weder zuverlässig noch besonders belastbar. Aber trotzdem hatte sich Aurun manchmal mehr zu ihnen als zu ihresgleichen hingezogen gefühlt. A-Klone hatten manches, was Aurun auch bei sich beobachtete. Sie konnten zweifeln, konnten fühlen und hatten manchmal fast so etwas wie Fantasie.
Und die roten D-Klone? „Kleine rote Waldameisen“ wurden sie von den anderen genannt. Denen konntest du hundert Tabellen von Zahlen zum Zusammenrechnen vorlegen und sie setzten sich hin und rechneten und rechneten und hörten nicht auf, bis alle hundert Tabellen berechnet waren. Sie konnten arbeiten bis zum Umfallen, solange sie dabei nicht selber denken mussten, sondern jemand ihnen sagte, was sie tun sollten. Aber ansonsten konntest du sie vergessen. Kein Interesse an nichts. Keine Selbstständigkeit. Kein Lachen, kein Weinen, kein Schreien, kein Beleidigtsein. Immer höflich, immer korrekt – und es gab so viele von ihnen. Die Schulen, die Fabriken, die Straßen, alles war voll von diesen kleinen Ameisen. Sie hielten die Gemeinschaft der Kleinen Leute am Laufen, ohne sich dafür zu interessieren, was vor sich ging. Essen, schlafen, arbeiten, so waren D-Klone.
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