Emma war ein heller Geist, und Phantasie besaß sie auch. Beide Fähigkeiten funktionierten auch jetzt noch ganz gut. Aber dieser Ron Gallagher tat schon wieder alles, um sie um ihren Verstand zu bringen. Er war irgendwie tatsächlich ganz schön krank, fluchte sie innerlich und ärgerte sich, dass sie bereit gewesen war, sich auf einen solchen Schwachkopf einzulassen. Sie musste gehen. Es war ratsam, diesen Freak zu vergessen. Vergeben war unmöglich. Wenn er wirklich so war, tat er ihr nicht gut. Wenn er Drogen nahm, gehörte er weggesperrt. Und dennoch haderte sie. Eine Frage beschäftigte sie. Sie hatte die Untergrundbahn kommen hören, sie gesehen. Die Lichter waren geradewegs und unausweichlich auf sie zugesteuert. Wäre Ron nicht gewesen, oder wer zum Teufel auch immer, sie wäre jetzt tot. Mausetot.
Sie musterte Ron sorgsam genau, der sich wieder daran gemacht hatte, die Filme einzuordnen. „Wenn es stimmt, was Du sagst. Nur mal angenommen. Warum hast Du mich dann vor dieser Bahn gerettet? Ich meine. Wenn Du doch wusstest, dass ich nach meinem Aufenthalt da unten bei Euch ohnehin gelyncht werde.”
Ron sah auf. Lange blickte er in ihr Gesicht. „Vielleicht, weil ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn man in jungen Jahren alles verliert.” Er hatte es ehrlich gemeint. Doch das sollte sie erst viel später verstehen.
Emma jedenfalls schlug sich sofort die Hand vor die Stirn. „Ron Gallagher! Lügen kannst Du nicht. Und Romantik auch nicht! Was soll Dein dämliches Gequatsche?”
Wieder schritt er auf und ab. Er dachte angestrengt nach, verschränkte Arme und Hände hinter seinem Rücken und blieb bisweilen stehen, um eine Pose einzunehmen, die anzeigte, wie intensiv er seine Gedanken selbst überprüfte.
Sie beobachtete jeden Schritt. Sein Schauspiel, aufrichtige Anteilnahme und Sorge darzustellen, und nichts anderes war es für Emma, dessen wurde sie sich sekündlich sicherer, war gar nicht mal schlecht.
„Hast Du jemanden, dem Du vertrauen kannst? Bedingungslos vertrauen kannst. Ich meine, Ihr Menschen geht doch solche Verbindungen ein. Öfter, als Euch das gut tut.”
Emma stutzte. „Ich sage schon. Ich wüsste nicht, was Dich das angeht.”
„Hast Du jemanden, den Du liebst?”
„Werd nicht unverschämt!”
„Hör zu! Es gibt einen Weg, Dich zu retten. Dazu brauche ich zuallererst Kerzen und Leinentücher. Viele Kerzen. Dann sehen wir weiter.” Ron kritzelte auf ein Blatt Papier, dass der Laden vorübergehend geschlossen blieb und hing den Zettel in die Tür. „Ach, nimm’s bitte nicht persönlich! Aber wenn Du jemanden mit Verstand kennst, wäre es auch von Vorteil.”
Emma ergab sich ein zweites Mal. Sie suchte selbst nach einem Grund, sich das anzutun, von dem sie nicht die geringste Ahnung einer einigermaßen plausiblen Erklärung besaß. Vielleicht, weil sie noch nicht glauben wollte, dass Ron tatsächlich verrückt war. Sicher. Liebe machte blind. Aber was war, wenn man nur verknallt war? Dann überdachte Emma ein paar Augenblicke lang, was noch alles geschehen könnte, wenn Rons Befürchtungen wahr würden. Freilich, diese Momente waren nur kurz, aber sie waren ihr in den Sinn gekommen.
Wenn es bei Gott und allen anderen Heiligen wirklich stimmte, was er ihr erzählt hatte, und bislang hatte Ron sich in seiner Geschichte nicht ein einziges Mal verstrickt, stand sie auf der Todesliste des Teufels, und dieser Gedanke war genauso schräg wie unangenehm. Ganz abgesehen davon hatte Emma auch die Idee entwickelt, dass Ron ja vielleicht ein wahres Feuerwerk abgebrannt haben könnte, sie für sich zu gewinnen, sie zu beeindrucken, um sich Augenblicke später wieder darüber klar zu sein, dass er sich einen derart dümmlichen Eroberungsfeldzug niemals leisten wollen würde, schon allein des Aufwandes und der Anstrengung wegen. Von einer solchen gewaltigen Anmache hatte sie noch nie gehört. Letztlich. Emma konnte einfach nicht loslassen.
Warum genau Ron immer vehementer darauf bestanden hatte, diesen Ort aufzusuchen, hatten Emma und Oskar nicht wirklich verstanden. Sie hatten sich letztlich seinem Willen gebeugt. Er sollte eine faire Chance bekommen, seine diffusen Bemerkungen glaubhaft machen zu können. Es wäre ein Leichtes gewesen, das Werk, das er so gepriesen hatte, in seinem Laden im Internet mit einer Suchmaschine ausfindig zu machen. Nach ein paar Klicks hätten sie nachlesen können, wonach er drängte. Stattdessen hatten sie sich mit der Bahn auf den Weg zur Universitätsbibliothek gemacht. Während der Fahrt hatte sich Ron mehrfach amüsiert. Er hielt Tempo und Ausstattung dieser Art der irdischen Personenbeförderung für reichlich antiquiert. Mehr noch witzelte er, dass die Erdlinge dafür auch noch bezahlen mussten. Am meisten aber lachte er über den Begriff des Schwarzfahrens und beschloss für den Rückweg, sich genussvoll genau dieser Gefahr auszusetzen.
Ron unterhielt sich mit einem Fahrgast über die Reorganisation samt einer effizienteren Fahrplanordnung, da setzte sich Emma neben Oskar. „Sag mal! Wenn ich Dir eine dumme Frage stelle, antwortest Du trotzdem?”
Oskar blickte sie verwundert an. „Was, wenn die Antwort auch komisch ist?”
Emma haderte mit sich. „Rieche ich? Ich meine, rieche ich anders als sonst?” An seinem Blick konnte sie erkennen, wie dumm ihre Frage war.
Oskar schnupperte trotzdem an ihr. „Wenn es ein neues Parfum ist, vergiss es! Zu neutral. Ohne Wirkung.” Weil er vermeiden wollte, sich um Kopf und Kragen zu reden, beschloss er, sich einfühlsamer zu geben. „Was bitte meinst Du genau? Habt Ihr etwa...”
„Ich habe Dich nur gefragt, ob ich anders rieche als sonst. Mehr nicht.”
„Nein!”
„Dann ist ja gut!”
„Was ist gut?”
„Vergiss es! Ich hätte einfach nicht fragen sollen.”
„Mein Reden.” Oskar drehte seinen Kopf näher zu Emma und zog erneut Luft. Er wandte sich wieder ab. Momente später äußerte er leise Entrüstung. „Habt Ihr Euch etwa doch ein kleines Fickerchen gegönnt?”
„Nein! Haben wir nicht. Wir waren zwar bei mir. Und sogar zusammen in der Badewanne, um genau zu sein. Aber es ist nicht das passiert, was Du denkst.”
„Dann ist ja gut! Wenn Frauen nämlich ihren Hintern gezeigt haben, ist es meistens der Anfang vom Ende. Denken sie jedenfalls, ganz grundsätzlich. Wenn es ihnen dann noch gleich beim ersten Mal Leid tut, dann ist es...”
„Ich habe einfach keine Lust, eine Testfahrt zu sein,” hauchte Emma unvermittelt ins Nichts. „Er soll gefälligst vorsichtig mit mir sein!”
„Ach Gott! Lass das mal, mit dem Prinzessinnengehabe! Ihr Frauen seid doch alle gleich. Als hoffnungslose Romantikerinnen seid Ihr auf der Suche nach der wahren Liebe, redet Euch aber gleichzeitig ein, dass Ihr keinen Mann braucht, um Euch komplett zu fühlen.”
„Ist das so?” fragte sie noch leiser zurück.
„Du weißt, dass es so ist. So und keineswegs anders. Und es ist trügerisch, heuchlerisch nahezu. So wie die Aussagen, dass nur die Frauen für emotionale Reife, Zusammenhalt und Verständnis eintreten, sich als Rivalinnen in Wahrheit aber gegenseitig hassen.”
Emma stimmte ihm wortlos zu.
Oskar sah ihr an, wie sehr sie ihre Frage bedrückte, ob sie richtig lag, wenn sie sich weiter auf Ron einlassen würde. „Wenn sich Frauen auf sich selbst beschränken, kommen Lesben, Magersucht oder wöchentliche Therapiesitzungen dabei heraus. So willst Du nicht wirklich enden. Also! Wo ist Dein Mut?”
„Oskar Ortega! Könnten wir bitte schweigen. Ich ringe gerade mit meiner Zukunft.”
Den Rest des Weges folgte Oskar ihrem Wunsch, weil er in ihrem Ausdruck der ständigen Selbstzweifel wahrgenommen hatte, wie quälend lange es dauern konnte, bis der Traum von Liebe wie eine Seifenblase zerplatzte.
Als Emma und Ron zusammen mit Oskar eine halbe Stunde später die Universitätsbibliothek betraten, war vor allem Ron von der Ansammlung menschlicher Geistesergüsse in ehrwürdigem Ambiente sofort tief beeindruckt. Zahlreiche User, wie Oskar sie nannte, schoben im Registratursaal Mikrofilme ein und aus, drückten die Tastaturen unzähliger Rechner und notierten ihre Funde. Niemand sprach ein Wort. Einige schienen sich den ganzen Tag mit ihren Nachforschungen zu beschäftigen, wie Emma beobachtete.
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