Ron blickte ihm nach. Er rang damit, in seinem Ton so dienerisch wie eben möglich zu klingen. „Ich möchte noch anmerken, dass ich nicht fahren kann.”
Crassus verharrte. Seinen Hinweis schien er so gar nicht erwartet zu haben. Blitzschnell drehte er sich zu ihm herum. „Was soll das heißen? Er kann nicht fahren.”
„Ich habe es nie gelernt. Nie gebraucht. Kein Führerschein. Kein Auto.” Ron gestikulierte seine Unschuld und zog die Schultern hoch.
„Wie darf ich das verstehen? Das ist absurd. Die Erdlinge lieben ihre Automobile mehr als alles andere,” fauchte der Schwellenwächter.
„Ich hatte es bei der Auswahl zu dieser Mission ausdrücklich bemerkt, dass ich keine gültige Fahrerlaubnis besitze und über keinerlei Fahrpraxis verfüge.”
Crassus horchte irritiert auf.
Es war wirklich so. Ron hatte noch nie ein Auto gefahren, und es auch nie gelernt. Er spekulierte ganz einfach darauf, dass sich mit diesem Defizit an Fähigkeiten die unliebsamen Einsätze auf Erden um ein beträchtliches Maß reduzieren ließen. „Deswegen doch auch der Fahrdienst jeden Tag,” ergänzte er erklärend.
Crassus war nachdenklicher geworden und schritt in mehreren Bahnen auf und ab.
Ron atmete erleichtert tief durch. Er hatte Zeit gewonnen, so viel wusste er. Mehr jedoch nicht. Er beobachtete den hochrangigen Grenzschützer, der stehen geblieben war und immer noch keine Lösung für den Planungsfehler bei der Agentenbesetzung anbieten konnte, für den er nicht verantwortlich, aber dennoch seinen Kopf hinhalten musste.
Plötzlich platzte Emma in den Laden und plapperte unvermittelt laut los. „Also schon, Ron Gallagher! Du erzählst mir jetzt sofort, was Du da gestern für eine Nummer abgezogen hast, oder...” Emma registrierte den vermeintlichen Kunden und unterbrach ihre Attacke.
Crassus schnupperte augenblicklich Luft. Ein besonderer Duft erheiterte sein Gemüt. Er lächelte auf, wandte sich mit einer zackigen Drehung herum und stand, wie von Geisterhand geführt, vor Emma. „Oder was?”
Emma war genauso verblüfft wie verschreckt. Wie war das möglich, dass sich jemand derart schnell bewegen konnte? Sie blickte auf das von Narben zerfurchte Gesicht und dann in jenes düstere dunkle Augenpaar, das sie stechend musterte.
Crassus verdrehte seinen Kopf mehrfach hin und her und beäugte sie immer interessierter aus verschiedenen Winkeln. Schließlich schob er seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und grinste sie diabolisch an.
Emma geriet starr vor Verwirrung.
„Sie ist süß. Ein wirklich süßes Menschenkind. So jung. So frisch. Und so voller Leben. Ist sie es? Ist sie es?” Der Schwellenwächter rückte noch dichter an sie heran und roch an Emmas Hals. „Sie ist es! Sie ist es!”
Emma versuchte, sich wieder zu sammeln, denn dass ein Mann an ihrem Geruch interessiert war und sich ständig wiederholte, konnte nur bedeuten, einen Geistesgestörten vor sich zu haben. Sie trat einen Schritt zurück. „Und wer sind Sie bitte schön?”
„Mister Smith! Ich bin Mister Smith!”
Emma wandte sich gelöst ab. „Alles klar! Die Nummer kenne ich.” Sie ging auf Ron zu. „Er hat einen Clown zum Frühstück gehabt. Aber komisch ist das deswegen noch lange nicht.”
Ron verdrehte genervt die Augen und drückte seinen Zeigefinger auf den Mund.
Unvermittelt, wie von außerirdischen Zauberkräften geführt, stand Schwellenwächter Crassus erneut vor Emma, ohne auch nur einen Schritt getan zu haben.
Emma erschien er größer und breiter als zuvor.
„Schweige sie! Sofort!” Momente später, wieder wie von Geisterhand gelenkt, hatte er sich vor Ron aufgebaut. „Er hört von mir!” Mit schwungvoller Drehung wandte sich der Schwellenwächter ein letztes Mal herum und befand sich bereits an der Tür. „Der Satan kennt keine Gnade!” Dann verschwand er endgültig.
Emma schluckte tief. Ihre Verblüffung über diesen rätselhaften Auftritt löste sich. Langsam schritt sie auf Ron zu, stemmte ihre Hände in die Hüften und versah ihn mit dem kritischsten ihrer prüfenden Blicke. „Ok, Ron Gallagher! Wer zum Teufel war das?”
Ron schwieg. Er setzte sich auf den Hocker, atmete mehrfach tief durch und rieb sich angestrengt sein Gesicht.
„Hallo? Ich rede mit Dir.”
„Halt endlich mal Deine Klappe! Du hast ein echt großes Problem. Ein ganz großes Problem sogar.” Er ging in sich gekehrt auf und ab, und so wie er das tat, hätte es selbst für Emma etwas Besorgnis erregendes haben müssen. Stattdessen jedoch schüttelte sie voller Unverständnis ihren Kopf und war gewillt, ihre auffordernde Pose solange aufrechtzuerhalten, bis er eine Antwort von sich gegeben hatte, die Sinn machte.
Ron blieb stehen und schaute sie lange an. „Kannst Du eigentlich schwimmen?”
Emma geriet fassungsloser. „Puh! Wir kennen uns kaum, und Du willst mich im Bikini sehen?”
„Sag schon!”
„Sollte ich schwimmen können, wüsste ich nicht, was Dich das angeht. Und nur so ganz nebenbei wüsste ich gerne, was das mit dem zu tun hat, was hier gerade passiert ist.”
„Emma Nielsen! Glaub mir! Du hast ein Problem,” entgegnete er ihr leise.
Dumme Geschlechterkonflikte, dachte sie. Gerade die wollte sie unbedingt vermeiden. Emma unternahm einen neuerlichen, diesmal gemäßigten Anlauf nach einer Erklärung zu fragen. „Ok! Erzähl mir mein Problem! Ich meine, wenn ich eins habe, das ich nicht kenne, habe ich doch wohl ein Recht darauf zu wissen, was mein Problem ist.”
Sie hatte vor ihrem Besuch in Rons Laden die ganze Nacht über nicht einschlafen können. Erst gegen fünf Uhr morgens fielen ihr die Augen zu. Weil sie nach Erklärungen der Ereignisse des vergangenen Tages drängte, Ron wieder sehen wollte, die Schule aber rief, hatte sie vorgegeben, krank zu sein. Die Mutter hatte zu Beginn des allmorgendlichen Streits, den sie zeremonienartig ausgetragen hatten, kein Wort ihrer vermeintlichen Schulunfähigkeit geglaubt. Doch als sie ins Bad getreten war, und die Christiane ihre Tochter gesehen hatte, schickte sie Emma sofort zur Hausärztin. Emma hatte wie eine Karre Mist ausgesehen: übermüdet, mit rotem Rachen und schweißig glänzender Stirn. Die rote Zunge war das Resultat geriebener Paprika, und der Schweiß auf der Stirn war Babyöl gewesen.
Der Besuch bei der Hausärztin fiel entsprechend kurz aus. Emma hatte sich lediglich ein neues Rezept für zwei Medikamente ausstellen lassen, die eine Reizung der Nasennebenhöhlen linderten. Den alten Zettel dieser ärztlichen Verordnung hatte sie sorgfältig für genau die Fälle aufgehoben, versäumte Schulstunden entschuldigen zu können.
Eine halbe Stunde später war Emma wieder in der Wohnung gewesen, hatte ihre Lieblingsjeans und jenes Shirt mit der Aufschrift „Denken Hilft!” angezogen. Sie hatte ihre morgendlichen Täuschungsmanöver korrigiert, zehn Minuten später in Rons Laden gestanden und diesen neuerlich rätselhaften Auftritt des Narbengesichts erlebt.
Danach hatte Ron sich alle Mühe gegeben, Emmas Problem zu erläutern, was zur Folge hatte, dass sie nun, konsterniert wie nie zuvor, auf dem Hocker saß und schwieg. Zum ersten Mal in ihrem Leben, solange sie zurückdenken konnte, musste sie beide Arme und Hände heben. Sie ergab sich. Sie war nicht annähernd in der Lage, ein letztes Wort zu sprechen. Nur mit großen Mühen konnte sie eine erste Reaktion auf seine Offenbarung artikulieren. „Meinst Du nicht auch, dass es Zeit wird für Dich? Ich meine, Du bist doch sonst ganz in Ordnung, oder? Ein Psychologe kann Dir bestimmt helfen.”
Ron hatte Emma schonungslos alles berichtet, über sich, seine Herkunft, seine Vergangenheit, die Mission und über Crassus, den Schwellenwächter Luzifers, der gekommen war, um Emma zu holen, weil kein Mensch ungestraft die Hölle betreten durfte. Als Crashkid sollte Ron, wie in solchen Fallen üblich, dafür sorgen, dass Emma bei einem Autounfall getötet werden sollte. Er selbst hätte sich im letzten Moment, im Augenblick ihres Todes, entmaterialisiert.
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