Ron lebte seit zwei Jahren im Sechsten Agententrakt der Unterwelt. Sein Status kam dem eines strafgefangenen Freigängers, der am Abend in seinem Gefängnis zurück sein musste, um es morgens für eine regelmäßige Arbeit wieder verlassen zu dürfen. Dieser Teil des Höllenreiches, der sein Quartier beherbergte, war dem eigentlichen Jenseits vorgelagert. In ihr lebten alle teuflischen Bediensteten, die bei den Menschen einer geregelten Arbeit nachgingen.
Um auf die Erde zu gelangen und wieder zurück, waren Agenten wie Ron mit der Fähigkeit ausgestattet worden, sich zu entmaterialisieren. Dadurch konnten sie in Millisekunden die Grenzen beider Welten überwinden. Einmal in der Woche mussten sie dazu ihre energetisch geladene Kleidung aus der Wäschekammer abholen. Eine Garnitur reichte in der Regel für den Hin- und Rückflug.
An Sonn- und Feiertagen genoss Ron das höllische Treiben in der Unterwelt. Dann ging er in seine Lieblingsbar, traf seine Kumpel und feierte ordentlich ab. Der illustre Kreis brachte eine Menge Spaß. Wollte er allein bleiben, las er Bücher. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Ron durch einfaches Blättern die wesentlichen Aussagen verinnerlicht hatte. Doch zum Ärger seiner Vorgesetzten war Ron selten danach, allein zu sein. Seine erstaunliche Lesefähigkeit verkümmerte von Jahr zu Jahr. Dafür konnte Ron wie ein Teufel fechten. Gespannt hatte er darauf gehofft, einen Einsatz zur Zeit der Französischen Revolution zu erhalten. Mantel, Degen und Abenteuer – das wäre genau nach seinem Geschmack gewesen, wenn nötig auch in einer anderen Zeit. Dieser Wunsch aber wurde ihm stets verwehrt. Vielleicht lag es daran, dass Ron durch derlei Enttäuschungen immer weniger Lust verspürte, an den teuflischen Pflichtdiensten auf der Erde Gefallen zu finden. Was er konnte, wurde ihm verwehrt. Was er wollte, blieb ungehört. Was er musste, passte ihm nicht.
Gab es für Agenten wie Ron eine Mission auf Erden zu erfüllen, erfolgte zunächst eine umfassende, auf die Aufgabe abgestimmte, Vorbereitung. Schulungen beinhalteten die Fächer Zeitgeist, Menschenkenntnis, Menschenführung und aufgabenspezifische Qualifikationen. Ein Fitnessprogramm war genauso Pflicht wie die Lektüre des Satanischen Manifests, auf dem sich jedes teuflische Handeln begründete. Lüge, betrüge, führe in die Irre, sorge für Streit und Zwietracht, animiere zu jedem boshaften Gedanken, verleite zu Sünden – die Aufgabe der Agenten bestand darin, im Wettstreit mit dem himmlischen Lager Versuchungen zu schaffen, denen die Menschen erlagen.
Insgeheim hatte Ron gehofft, im Vorfeld seiner Mission auch an den Seminaren teilnehmen zu können, die ihn danach befähigten, sich ständig verflüchtigen zu können und Ereignisse innerhalb der nächsten Stunde vorherzusehen. Diese Kurse aber waren sehr beliebt, entsprechend lang war die Warteliste. An beiden Schulungen hätte er in zwei Wochen teilnehmen können, doch er war bereits seit fünf Wochen im Einsatz. Auch das hatte nicht gerade seine Laune erhöht, als er berufen worden war, den Vorposten für einen globalen Internetkrieg zu übernehmen.
Ron machte sich an die Arbeit. Aus allen Ländern der Erde kamen jeden Tag mehrere Kisten mit neuen Filmen mit immer neuen martialischen Inhalten. Die Handlung war gleichgültig. Hauptsache Blut, Folter, Mord und Totschlag. Auch die Durchführung war austauschbar. Hauptsache Qualen und Tote. Zum Schein führte Ron alle anderen gängigen Filme aktueller nationaler und internationaler Charts, wenngleich die Sparte der romantischen Liebesgeschichten oder die der Filme mit einem Happy End vollständiger hätten sein können. Ein ganzes Regal war mit teuflischen Geschichten gefüllt, mit Filmen, in denen Luzifer persönlich in der einen oder anderen Abwandlung mitwirkte. Rons Lieblingsfilme füllten nur eine kleine Ecke. Er war ein Freund von Westernfilmen, vor allem ein Liebhaber des Banditenduos Sundance Kid und Butch Cassidy. War ihm langweilig, legte er einen ihrer Streifen ein, spielte mit oder sprach die Sätze, bevor es die Akteure taten.
Im Keller seines Ladens fanden sechs Suiten Platz, in denen Kunden gegen eine Gebühr ins Internet gelangten. Bei der Einrichtung des Lokals hatte er geschäftstüchtig vorgeschlagen, vier Suiten mehr einzurichten, wenn man das Ausmaß der anderen nur ein wenig begrenzen würde. Das Tribunal aber lehnte seinen Vorschlag noch immer rigoros ab. Sechs war teuflischer als Zehn, wie es hieß, denn die erinnerte die Erdlinge zuallererst an die zehn Gebote, was so wenig höllisch war. Ron widerstrebte die Kleingeistigkeit seiner Vorgesetzten.
Schnell und oberflächlich, wie die Welt und die Erdlinge nun mal waren, hatte er bemerkt, dass die meisten seiner Kunden bei ihm nur ins Netz gingen, um mal eben schnell ihre Emails zu checken. Das brachte ihn auf die Idee, von einem Server in Polen die vom Tribunal vorgegebenen Webseiten, mit teuflischen Inhalten versteht sich, direkt mit den größten und gängigsten Free-Mail-Anbietern zu verlinken. Wollte jemand also seine Emails lesen, und rief dieser jemand deswegen seinen Account auf, tauchten zunächst immer die gewünschten Webseiten auf. Erotikportale priesen Fremdgehen an, Tauschbörsen animierten zu Datendiebstählen, Zockerbörsen verleiteten zum Glücksspiel, Fightclubs schulten Gewalt. Wer den zusätzlichen Verlinkungen folgte, war unzähligen weiteren Verführungen jeder Art ausgesetzt. Die Mitglieder des Tribunals waren begeistert. Die Kunden indes quittierten das lästige Erscheinen und ständige Entfernen dieser Seiten mit durch und durch irdischer Verbraucherintelligenz und blieben seinem Laden fern. Ron kümmerte das wenig. Je weniger Erdlinge ihn aufsuchten, desto mehr Ruhe hatte er vor ihnen.
Ron hatte alle Rechner gestartet und sortierte gerade eine Kiste Horrorfilme ein, als Tarzans Urwaldgeschrei ertönte. Er hielt es für angemessen, diesen Sound für den heutigen Tag als Begrüßungssignal beim Betreten des Ladens zu wählen. Ein Mann stand in der Tür. Lässig trug er einen Ledermantel, der ihm bis zu den Fersen hing. Seine Haare waren pomadig nach hinten frisiert, tiefe Narben verliefen über sein Gesicht, und auf der Nase trug er eine Sonnenbrille mit dunklen Gläsern, die seine noch düsteren Augen verbargen. Sein Gast erinnerte ihn von weitem an eine Erscheinung, die entweder dem Spielermilieu oder anderen amüsant-amourösen Nebenbeschäftigungen zwielichtiger Typen zuzuschreiben war. Ron wusste sofort. Das war sein Besuch. Beide blicken sich sogleich duellmäßig an.
„Er weiß, warum ich gekommen bin.” Schwellenwächter Crassus nahm die Brille ab. Seine Pupillen schimmerten dunkel wie die Nacht. In der Höllenhierarchie war Crassus zum General aufgestiegen, wie Ron über eine befreundete Agentin erfahren hatte. Luzifer persönlich hatte ihn dazu in diesem Monat erst als Grenzhüter auch für Rons Distrikt bestimmt.
Ron befürchtete, dass Ehrgeiz und Gehorsam dieses Soldaten keinen Kompromiss kannte. Er versuchte, so beiläufig wie möglich zu wirken und stimmte ihm einsichtig zu.
„Also! Warum?” wollte Crassus wissen. „Warum hast Du gegen unsere Ordnung verstoßen?”
Ron gab sich weiterhin nachdenklich und wartete einige Zeit, ehe er antwortete. „Sie war mir gefolgt. Na ja! Ein Todesfall in dem Bahntunnel hätte bestimmt zu weiteren Untersuchungen geführt. Der Zugang hätte entdeckt werden können, ein neuer gesucht und errichtet werden müssen. Mehr Komplikationen, Aufschub, Ärger und natürlich jede Menge Kosten. All das wollte ich unbedingt vermeiden.”
Er hatte seine Erklärung so selbstverständlich vorgetragen, dass sein Gegenüber einige Zeit brauchte, um zu verstehen und zu urteilen. „Er weiß, was zu tun ist.”
Wieder bestätigte Ron wortlos mit kurzer Geste.
„Gut!” Crassus legte einen Autoschlüssel auf den Tresen und ging zur Tür. „Ein Leihwagen. Er steht an der Straßenecke. Ein Porsche. Automatik. Ich verlasse mich auf ihn.”
Читать дальше