Ron hatte sofort reagiert, als er sie auf den Gleisen gesehen hatte. Er hatte vernommen, dass sie ihm gefolgt war und befürchtet, dass Emma die Gefahr unterschätzte, in der sie sich befand. Eile war geboten, Emma war chancenlos gewesen. Dass sie ihn seit Wochen beobachtet hatte, war ihm gleich während ihrer ersten Annäherung aufgefallen. Über Stunden hatte sie damals in einem rehbraunen Porsche an der Straße gesessen, ihn und seine Besucher mit einem Fernglas beobachtet und sich stets abgeduckt, wenn er zurückgeschaut hatte.
Bisweilen hatte sie ihre Nachstellungen reichlich plump gestaltet, mitunter auch amüsant. In der zweiten Woche, nachdem er seinen Laden bezogen hatte, war Emma auf den gegenüberliegenden Baum geklettert und hatte, als Ron sie angesprochen hatte, vorgegeben, ihre Katze zu suchen. Heimlich hatte Ron die Leiter zu Boden gelegt. Ganze zwei Stunden hatte sie auf dem Ast gesessen, bevor sie auf sich aufmerksam gemacht hatte. Die Ladenrollos hatte Ron heruntergelassen und Emma immer lautstarker fluchen gehört. Ein anderes Mal hatte sie angeblich ihren Schlüsselbund verloren. Hilfsbereit wie Ron war, hatte er ihr einen gereicht, den ein Kunde in seinem Laden vergessen hatte. Emma hatte sich hochroten Kopfes artig bedankt und schnellstens die Kurve gekratzt.
Ron ahnte ebenfalls, dass auch Emma hinter diesen Anrufen steckte, die ihn seit geraumer Zeit ohne Rufnummerübermittlung erreichten, und in denen der Teilnehmer am anderen Ende stets nicht ein Wort sprach.
„Ja, ich liebe Dich doch auch. Wann kommst Du endlich vorbei?”
Als Ron diese Worte ausgesprochen hatte, war die Verbindung sofort unterbrochen, ebenso, als er ein anderes Mal das Telefon an den Fernsehlautsprecher gehalten hatte, aus dem die stöhnenden Töne eines Liebesaktes gedröhnt hatten. Irgendwie aber mochte er Emma. Ihre schrägen Annäherungsversuche hatten sein eher tristes Dasein auf Erden erheitert. Auch ihre Anmut und ihr Esprit gefielen ihm, doch wegen seiner Mission wollte jeder Umgang mit den Erdlingen sorgfältig überlegt sein.
Er selbst war in jungen Jahren gestorben. Das war der Grund, warum er Emma vor dem Tod bewahrt hatte. Jetzt hatten beide, vor allem aber Emma, ein echtes Problem. In der Hölle sah man es überhaupt nicht gerne, wenn Menschen dort auftauchten. Im Reich der Toten hatten irdische Lebewesen so gar nichts zu suchen. Abgesehen davon, dass man die wenigen, die einen vergleichbaren Aufenthalt wie Emma erlebt und darüber berichtet hatten, für geistesgestört hielt, waren sie kurze Zeit später allesamt auf wenig natürliche Art verstorben, obgleich es stets genau so ausgesehen hatte. Emma also stand jetzt ebenfalls auf Luzifers Todesliste. Seine Schergen wetzten bereits die Messer.
Ron Gallagher war nicht sein richtiger Name. Geboren in London, am gleichen Tag des Jahres, in dem Benjamin Franklin in Amerika den Blitzableiter erfunden hatte, wuchs ein gewisser John T.C. Carlington bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr bei einem englischen Ehepaar in der Grafschaft Yorkshire auf, das den Knaben damals kurz nach seiner Geburt adoptiert hatte. Seine leibliche Mutter starb bei der Entbindung, der Vater erlag am darauf folgenden Tag den Verletzungen aus einem Duell. Er hatte dem Arzt hygienische Schlamperei bei der Geburt seines Sohnes vorgeworfen. Als John die Wahrheit über seine Herkunft erfahren hatte, knöpfte er sich den Arzt neuerlich vor. In einem Degenduell tötete John zwar den Quacksalber, wurde aber selbst so schwer zerstochen, dass auch er das Leben verloren hatte. Das war vor fast zweihundertfünfzig Jahren gewesen.
Im Sterbebett hatte es John T.C. damals mehrfach abgelehnt, Buße zu tun. Er wollte einfach nicht bereuen. Ohne zu wissen, welche Konsequenzen diese Ablehnung letztlich bedeutete, hatte er sich auf das Recht der Vergeltung und nicht auf die Bibel berufen. Außerdem hatte der Arzt die Aufforderung zum Duell angenommen und war wenigstens ehrenhaft gestorben. Siebenmal rief man den Priester zu Johns letzter Ölung. Der Pfarrer kapitulierte schließlich an dem Starrsinn dieser armen Seele.
Als John T.C. Carlington in der Stunde seines Todes die Augen geschlossen hatte, sah er sich wenig später einem Gremium gegenüber, das seine vermeintliche Sünde auf Erden in höchsten Tönen lobte. Er stand vor einem Tribunal des Teufels, das ihm ein überraschendes Angebot unterbreitete. John T.C. Carlington durfte, wenn er wollte, weiterleben, als Agent des Teufels. Seine Beharrlichkeit, den Verlockungen einer angeblichen Erlösung durch den Erzfeind Gott zu widerstehen, hatte großen Eindruck gemacht. Nach seiner Auserwählung erfolgte eine umfangreiche Ausbildung. Als Mitarbeiter der Hölle wurde er fortan mit verschiedenen Aufträgen auf die Erde geschickt, um die Menschen mit bösen Gedanken und Ideen so zu manipulieren, dass sie sich versündigten. Aus John T.C. Carlington wurde Ron Gallagher – ein Special Agent im ewigen Dienst seiner Majestät des Teufels, His Infernal Majesty.
Ron war einer von zahlreichen Agenten Luzifers auf Erden. Hielt das teuflische Tribunal einen Menschen, der in die Hölle gekommen war, für fähig genug, war der Status erreicht. Die Auserwählten blieben immer gleich alt und sahen stets so aus wie zu dem Zeitpunkt, als sie die Erde verlassen hatten. Ihre Körperfunktionen arbeiteten in einem anderen Modus. Sie waren unsterblich. Je nach Einsatzgebiet wechselten die Schulungen. Ron wurde wie die meisten allgemein ausgebildet. Sein Wissen in vielen Fachgebieten war enorm, jedenfalls nach irdischen Bewertungsmaßstäben. Für die höllischen Ansprüche besaß Ron indes eine eher durchschnittliche Bildung.
Im Laufe der Jahrhunderte hatte er sich durchaus einige Anerkennungen erworben. Seine Feuertaufe, den Marquis de Sade mit immer boshafteren Ideen anzutreiben, hatte er mit einer Drei bestanden. Dessen Quälereien hätten durchaus noch ein bisschen effektiver sein können, urteilte damals das Tribunal. Es folgten weitere Kurzeinsätze. Ron hatte sich bei Mozart erfolgreich bewährt, war in der Delegation auf dem Wiener Kongress, hatte Heinrich Hoffmann zum Struwwelpeter geleitet, den Spartakusaufstand mitinszeniert und war an dem Freitod Marilyn Monroes ebenso beteiligt wie an der Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Freilich hatte er nie allein und verantwortlich agiert. Immer waren sie im Team unterwegs, und Ron hatte einen Teilauftrag der Missionen zu erledigen. Wurde ein gut aussehender, junger Bursche mit Charme gebraucht, kam Ron zum Einsatz.
Doch Ron blieb, je mehr er angerichtet hatte, lieber in der Hölle. Das ständige Lernen, die immer neuen Umstände, die Entwicklungen der Menschen, die irdische Kälte und auch viele der Menschen selbst waren für ihn eher eine Last, der er, wann immer er konnte, zu entfliehen versuchte. Er mochte es, mit seinen Kumpels in der Hölle abzufeiern, zu musizieren und den lieben Gott einen lieben Gott sein zu lassen. Jetzt war er wieder auf der Erde, war er wieder in teuflischer Mission unterwegs, um die angeblich so gigantischen Möglichkeiten der Unterhaltungsmedien zu nutzen, Böses zu verbreiten.
Luzifer persönlich hatte die Idee, zwischen Bits und Bytes und zwischen Web und Video zunächst eine ganze Stadt, dann das ganze Land und schließlich den gesamten Erdball zu infiltrieren. Ron war die Vorhut. Er wurde auserwählt, um den Feldversuch Luzifers zu realisieren. Es war sein erster Einzeleinsatz. Dass den Mitarbeitern im Inferno, der teuflischen Kommandozentrale, bei seiner Auswahl dabei ein Fehler unterlaufen war, als sie für diese Aufgabe eigentlich einen Agenten aus dem Fünften Agententrakt auswählen sollten, ärgerte Ron zunächst. Aller Protest half nicht. Dann aber erfuhr er, dass ihn die folgende Mission, zu der ein Agent aus dem Sechsten Agententrakt bestimmt worden war, dieser Ruf also ihn ereilt hätte, nach Irak verschlagen hätte, um dort den Bürgerkrieg weiter anzuheizen. So gesehen war diese Mission ein Glücksfall, denn Ron verabscheute Kriege und Gewalt. Aber das durfte keiner wissen.
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