1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Von ihrem Vater wusste sie, dass sich ausnahmslos alle Männer zuallererst für die Oberweite von Frauen interessierten, dann für ihre Brüste und schließlich für ihre Titten. So also hatte sie sich widerwillig ein paar Kosmetiktücher in den Büstenhalter gestopft, den sie sich von ihrer Mutter ausgeliehen hatte. Der Blick auf sich selbst, derart dümmlich aufgedonnert, genau so, wie es ihre Mutter auch immer tat, wenn sie sich ins Getümmel der Großstadt warf oder auch nur eine ihrer angeblichen Freundinnen wie Betty traf, wie es also schlimmer nicht ging, hatte ihr letztlich gehörig widerstrebt. Entweder dieser Kerl mochte sie, so wie sie war, oder er ließ es, Mitesser und kleine Brüste eingeschlossen. Abgeschminkt und ganz Emma, also ohne Vortäuschung gewisser weiblicher Reize, hatte sie sich, endlich ausgehfertig, neuerlich lange im Spiegel betrachtet. „Vielleicht, ich meine. Emma! Denk genau nach! Bist Du wirklich schon bereit für die erste große Erfahrung? Was, wenn’s schief geht?”
Sie hatte ihren leisen Selbstzweifeln Minenspiele folgen lassen. Charmant, verführerisch, lasziv. Emma hatte in den vergangenen Jahren viel durch ihre heimlichen Beobachtungen von den Frauen ihrer Umgebung gelernt. Letztlich hatte sie tief durchgeatmet, sich die letzten Bedenken aus dem Gesicht gequetscht und sich an einen Ausspruch ihrer Mutter erinnert, mit dem sie vor ein paar Jahren die Tochter aufzuklären versuchte, in sexueller Hinsicht. Es war schlimm gewesen, nahezu lächerlich, denn Emma war dank Internet und Leeranstalt bereits Jahre zuvor über alle wesentlichen Dinge diesbezüglich informiert. Damals war sie zwölf Jahre alt gewesen und hatte ihre erste Packung Tampons in einem Tankstellenshop erworben. Jedenfalls hatte die Mutter gemeint, dass man niemanden anderen lieben konnte, bevor man sich selbst nicht wenigstens ein bisschen lieben gelernt hatte.
„Na schön! Ich mag mich. Das muss reichen.”
Molle, die treuste aller ihrer Weggefährtinnen, hatte leise aufgeheult, schien sie doch irgendwie die Tragweite dieser Worte erahnt zu haben, die Emma fast pathetisch zu sich selbst in den Spiegel gesprochen hatte. Molle war Emmas allerbeste Freundin. Sie hörte stets aufmerksam zu und gab nie Widerworte. Vor allem aber stellte sie keine dummen Fragen. In früheren Jahren war Molle ein richtiger Fernsehstar gewesen. Gut. Sie spielte in einer eher billigen Serie, in keiner besonders erfolgreichen Produktion, aber immerhin lief sie damals einmal pro Woche über die Mattscheiben dieser Republik. In die Jahre gekommen, blieben die Anfragen für weitere Rollen schließlich aus. Blitzgescheit und mit allerlei Talent für verschiedene Kunststückchen ausgestattet, fristete sie nun allzu oft ein ähnliches Dasein wie Emma. Ihr war einfach viel zu oft viel zu langweilig. Das verband, auch ohne große Worte.
Molle also hatte ihren Unmut artikuliert. Erst eine ausgiebige Streicheleinheit hatte sie wieder besänftigen können.
„Na, komm! Was willst Du mir mit Deinem Der-Superstar-sucht-Deutschland-Blick sagen, hä?”
Molle war eine Hündin, ein gelungene Mischling aus Golden Retriever und Collie. Sie gehörte der Geschäftsführerin aus der Szenebar. Bis auf Schulbesuche teilten Emma und Molle ein gleiches Schicksal. Sie waren oft allein, obwohl man sie einmal aus ganz anderen Gründen angeschafft hatte. Das verband noch mehr.
„Irgendwann im Leben einer jungen, attraktiven, intelligenten, modernen und heranwachsenden Frau wird es Zeit, bestimmte Dinge ganz alleine selbst in die Hand zu nehmen. Deswegen kannst Du nicht mit, verstehst Du?”
Molle hatte die Abfuhr mit einem sanften Jaulen quittiert und ihren Kopf zwischen den Vorderpfoten vergraben.
Draußen vor dem Wohnhaus hatten sich ihre Wege getrennt. Alles war so gewesen, wie Emma es kannte. Kunden feilschten mit dem Türken um niedrigere Preise für schlechte Ware, die Bierkisten stapelten sich auf dem Gehweg, und Frau Schauerte kam von der Arbeit, parkte ein und verursachte damit wie immer eine minutenlange Verstopfung der ganzen Straße. Je weiter Emma jedoch vorangeschritten war, desto nervöser war sie geworden. In ihren Handflächen hatte sich ganz allmählich ein leichter, unangenehmer Schweißfilm breit gemacht.
„Bloß nicht Händeschütteln, bloß nicht! Denk dran. Und erst recht nicht Haare drehen.”
Emma redete immer dann leise mit sich, wenn sie nervös war, oder ihre Erregtheit an die Schwelle von Angst gereichte. An diesem Tag hatte sie gleich beide Regungen gleichzeitig besessen, obgleich ihr klar gewesen war, wie hinderlich ihre Empfindungen einer gelungenen Vorstellung im Wege stehen konnten. Immer kleiner waren ihre Schritte geworden. Ihr Magen hatte sich verknotet, und nur mit Mühe hatte sie einen Hustenreiz überwinden können, der ihre Lunge befallen und dafür gesorgt hatte, dass ihre Kehle immer noch brannte. Nahezu unausstehlich waren die Adrenalinschübe geworden, wo sie doch dabei war, ihr Glück zu machen. Dann hatte sie vor einem Laden gestanden, seinem Laden, der in erbärmlichen und so wenig marketingdienlichen, unregelmäßig aufblinkenden Lettern einen Filmverleih anpries und ins Internet einlud.
Ron war um die zwanzig Jahre alt, wie Emma schätzte, und je länger er in diesem Laden in der Straße bleiben würde, desto sicherer war sie sich, dass er zum Frauenheld avancieren würde. Es wurde also höchste Zeit, auf sich aufmerksam zu machen. Dunkle Haare, trainierter Body, smartes Lächeln. Und dann diese Augen. Mokkaaugen. Lässig trug er Jeans und T-Shirt. Emma wunderte sich zwar, denn immerzu trug er die gleichen Klamotten, aber diese Einfältigkeit war ihm früher oder später bestimmt abzugewöhnen.
Als Emma den Laden betreten hatte, stockte sie. Zwei Tussen hatten sich derart waffenscheinpflichtig aufgetakelt, dass sie kurzzeitig erwog, ihren Frontalangriff wegen Ungleichheit in der Auswahl weiblicher Kampfansagen zu verschieben. Sie stöberten in den Regalen und kicherten reichlich albern immer dann, wenn sie ein einigermaßen anstößiges Cover in Händen hielten. Emma war sofort klar, dass die beiden nicht wirklich da waren, um Rons diffuse Angebote filmischer Unterhaltung wahrzunehmen. Sie waren hier, um sich selbst in Szene zu setzen. Sie waren aus dem gleichen Grund zur gleichen Zeit an diesem Ort, an dem auch sie jetzt war. Verfluchter Zufall, dachte sie. War sie vielleicht schon zu spät? Eine der beiden, mit Sommerkleid und tiefem Ausschnitt zugegebenermaßen durchaus verführerisch ausgestattet, wie Emma argwöhnisch beobachtet hatte, lächelte immerzu übertrieben in Rons Richtung. Und Ron lächelte stets unverschämt charmant zurück.
„Also gut! Krallen raus! Du kleines Miststück!” murmelte sie sich selbst zu und dachte doch so anders. Den Mut zu entwickeln, sich einer solchen Erniedrigung unterwerfen zu müssen, war ihr zutiefst zuwider.
Ron saß auf einem Hocker hinter einem kleinen Kassentresen und aß aus einer Plastikschüssel, als Sommerkleidchen aufgesattelt hatte, um ihre erste Attacke zu reiten. Sie hielt ein Cover in Händen. Die Luft brannte. Emma stockte. Sie ging unauffällig ein paar Schritte in Richtung des Tresens, um wenigstens noch zu hören, wo sich die beiden ein paar Stunden später treffen würden. Lud er diese kleine Schlampe zu was auch immer ein, durfte sie ihn getrost abschreiben und vergessen.
„Was kostet die? Die Ausleihe, meine ich. Für einen Tag und eine Nacht.” Sommerkleidchen, ganz große, feine Dame von Welt, wedelte mit einer Ausgabe des Romantikstreifens „Titanic” vor Rons Nase und grinste ihn dabei wie ein Honigkuchenpferd unaufhörlich an.
Emma verschloss fremdbeschämt ihre Augen. Frauenauftritte konnten so dämlich sein, dachte sie.
Ron sah für einen kurzen Moment auf, aß dann aber weiter genüsslich an seinem Salat.
Respekt! Der Typ achtete schon in jungen Jahren auf eine gesunde Ernährung, dachte Emma anerkennend.
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