„Hab ich nicht gesagt, du sollst spätestens um zwölf zuhause sein?“, hörte van der Velde noch, als er das Haus verließ. Er stieg in sein Auto.
„Kraans“, murmelte er, als ihm der Name wieder einfiel. Vergangenes Jahr, am neunten November, stand auf der ersten Pappfigur der Name Kraans . Dann im März beim zweiten Einbruch dieser seltsamen Sorte Bublanski . Und jetzt Löwenstein . Und bei keinem dieser nächtlichen Besuche war etwas gestohlen worden. Nicht ein Staubkorn. Und noch viel merkwürdiger war, dass es eigentlich gar keine Einbrüche waren. Zumindest waren weder ein Fenster, noch eine Tür aufgebrochen worden. Neu war jetzt nur, dass die Wohnungstür unabgeschlossen war. Jedenfalls nach dem, was Freddie Haustenbeck behauptete. Bei den beiden vorherigen war auch die fest verschlossen gewesen.
Van der Velde riss seine Kiefern weit auseinander. Elfriede Sievers, die gerade wie ein Geist vorbei wackelte, schüttelte missbilligend den Kopf. Van der Velde zog eine Grimasse und startete den Motor.
Sonntag, 27. Juni.
Die Leute von der Spurensicherung fluchten, wie nicht anders zu erwarten war. Van der Velde tat kräftig mit. Was Besseres fiel ihm auch nicht ein, um sich am Sonntagmorgen bei Laune zu halten. Sie hatten sich um neun in der Regenbrechtschen Wohnung getroffen. Hinrich kam zehn Minuten zu spät und war zu allem Überfluss ausgeschlafen und glänzend aufgelegt, was ihm der Kommissar wochenlang nicht verzeihen würde, das nahm er sich fest vor.
Erst recht nicht, als Hinrich gegen elf verkündete, dass die Sanitäter Frau Regenbrecht in ihre Wohnung zurückbrächten. Jetzt gleich. Und noch ehe van der Velde das wutentbrannt verhindern konnte, standen sie auch schon in der Tür.
Die alte Dame war anscheinend mit allen Mittelchen der ärztlichen Kunst aufgepäppelt worden und stürzte wie eine Furie in ihre Wohnung. Zum Glück hatten die Experten von der Spurensicherung ihre Arbeit bereits abgeschlossen. In letzter Sekunde konnten sie ihre Instrumente zur Seite schaffen. Dann machte sich Frau Regenbrecht über ihre Schränke her.
Sämtliche Schubladen wurden herausgezogen und unzählige Deckelchen geöffnet. Exakt um 11 Uhr 14, wie Kommissar van der Velde mit einem schnellen Blick zur Armbanduhr festhielt, verkündete Traudl Regenbrecht das Verschwinden einer Kette. Dreiundfünfzig wertvolle Amethyst-Perlen.
„Ganz bestimmt!“, ergänzte sie, als sie den Blick des Kommissars bemerkte. Die Kette habe ihr Frau Blume geschenkt. Vor Jahren. Also Mia Blume, nicht Änne Blume, wenn der Herr Kommissar verstehen würde. Der Herr Kommissar verstand nur Bahnhof, notierte aber pflichtschuldig Mia Blume . Aber dass die Kette sehr wertvoll sei und obendrein verschwunden, das könne sie mit Sicherheit sagen. Und dass der Kerl genau neben dieser Schublade gestanden habe.
Neben welcher Schublade genau?
Na, wo die drin war, die Kette.
Und … der Kommissar war so baff, dass er kaum zu fragen in der Lage war … welchen Kerl meine sie denn bitte? Doch nicht …
„Doch, doch!“ Frau Regenbrecht nickte eifrig, und im Verlauf des folgenden Wortschwalls lernte Franz van der Velde so einiges über die Jugend von heute. Und dass das damals nun wirklich anders gewesen sei.
„Damals?“, hakte van der Velde nach.
Irritiert hielt Frau Regenbrecht inne und sah van der Velde in die Augen. Plötzlich wurde ihr Blick starr.
„Oder ob SIE es waren?“ Und bevor der Kommissar irgendetwas antworten konnte, kreischte sie: „Was stand auf der Pappe?“
Frau Regenbrecht packte den Leiter der Spurensicherung, der sich auf eben jenen Stuhl gesetzt hatte, wo kurz vorher noch der Pappkamerad gesessen hatte. Frau Regenbrecht schüttelte ihn. Die Jungs im Krankenhaus hatten sie vielleicht ein wenig zu sehr aufgepäppelt, fand van der Velde. Genauso unvermittelt, wie Traudl den panisch nach Hilfe Ausschau haltenden Mann gepackt hatte, ließ sie ihn auch wieder los und sackte wie ein Sack Mehl auf den Stuhl, den ihr van der Velde in letzter Sekunde unter den Hintern schob.
„Was stand da drauf?“, flüsterte sie.
Van der Velde legte seine Hand auf ihre Schulter, eine Angewohnheit, die er für beruhigend hielt. Traudl Regenbrecht war blass wie eines ihrer Bettlaken. Und zitterte.
„Stand da Löwenstein?“
Der Kommissar antwortete nicht. Traudl Regenbrecht schrie, lange und schrill.
Zehn Minuten später hielt der Krankenwagen wieder vor der Haustür und brachte Frau Regenbrecht zu einer zweiten Nacht ins Vincenzkrankenhaus. Van der Velde schickte die Kriminaltechniker nach Hause und beauftragte Hinrich, alles über eine Person oder Familie namens Löwenstein herauszufinden.
„Ja, alles. Und bevor du nachfragst: Ja, bis morgen!“
Hinrich holte noch einmal tief Luft, aber da war der Kommissar schon unterwegs. Hinrich warf noch einen Blick in die Wohnung. Die Pappfigur hatte die Spurensicherung mitgenommen. In Hinrichs Fantasie aber saß sie noch immer hinter dem Wohnzimmertisch. Wie ein böses Omen, eine dunkle Anklage.
Hinrich zog die Tür zu. Diese hässliche Sicherheitstür, von der Frau Regenbrecht steif und fest behauptete, sie habe sie abgeschlossen. Selbstverständlich! Zweimal! Sein Blick streifte den Türgriff. Einen Löwenkopf. Der sollte IHNEN Angst einjagen, hatte Frau Regenbrecht gewispert. IHNEN ?, hatte Hinrich gefragt. Und sie hatte nur stumm genickt.
Hinrich verließ das Haus.
Löwenstein.
Er ging die Schulstraße entlang. Bis zu Favretti, der besten Eisdiele weit und breit, waren es nur ein paar Schritte. Dort hatte er sein Fahrrad geparkt. Auf halbem Weg kamen ihm zwei merkwürdige Gestalten entgegen. Der eine mindestens einsneunzig und ein Bär von einem Kerl. Er nahm fast die komplette Bürgersteigbreite ein. Daneben versuchte ein kleines schmächtiges Männlein mit ihm Schritt zu halten.
„So warte doch“, hörte Hinrich ihn flehen, aber der Bär kümmerte sich nicht um das mückenbeindürre Anhängsel. Wäre es umgekehrt gewesen, also der Große dünn und der Kleine dick und rund, hätte Hinrich möglicherweise genauer hingesehen. Hätte sie vielleicht sogar erkannt. So aber wich der Kriminalassistent in den Rinnstein aus und ließ das abenteuerliche Gespann vorbeitrudeln.
Als Hinrich sein Fahrrad aufschloss, war er in Gedanken längst wieder bei dem Job, den ihm der Kommissar aufgebrummt hatte.
Löwenstein.
„Nicht so schnell“, bettelte Carlo und versuchte Ede am Hemdzipfel festzuhalten.
„Halt den Mund“, knurrte der Bär und wischte ärgerlich Carlos Hand beiseite. „Wir sind gleich da.“
Dem kleinen Dünnen mit dem viel zu großen Kopf, der gefährlich kippelig auf dem dürren Hals balancierte, lief der Schweiß in Strömen herab.
„Hätten wir nicht woanders anfangen können?“, maulte er.
„Zum Beispiel?“ Der Große drehte sich nicht mal nach ihm um.
„In … in …“
„Ja?“
„Egal.“ Der Kleine stolperte, fing sich wieder. „In Paderborn.“
„Auch nicht besser“, raunzte der Große. „Jetzt reiß dich mal zusammen. Da vorne ist es schon.“
Sie stiefelten quer über den Marktplatz auf Sankt Urban zu. Ritter Kunibald auf seinem eisernen Zossen blickte streng vom Brunnen auf Carlo herab, dass ihm heiß und kalt wurde. Gleichzeitig. Dann die Stufen zum Portal des Doms hinauf (Ede immer drei auf einmal, Carlo zwei Schritte pro Stufe) und rein in die dunkle Kirche. Ein neues Leben anfangen, nächster Versuch. Diesmal begonnen mit einer Beichte am Ort ihrer größten Missetat: Dem bis heute unaufgeklärten Überfall auf die Breselner Sparkasse vor zwei Jahren. Als Ede noch lang und klapperdürr gewesen war, und Carlo eine Kugel auf zwei Beinen. Heute bekam Ede seine ausladenden Formen kaum in eine Sitzreihe gezwängt, während für Carlo das Fußbänkchen gereicht hätte.
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