Doch jetzt war wieder Frieden eingekehrt und die Mauern der Burg standen nicht schräger als am Tag zuvor. Trotz Schnürs Enkel, oder wie auch immer diese Musikgruppe hieß. Der langhaarige Bengel gehörte zum Beispiel dazu. Er hatte eine elektrische Gitarre bearbeitet, und der andere (der irgendwas mit Stroh hieß) hatte in ein Saxophon getrötet. Freddie spielte dazu ein Klavier mit Strom und ein Mädchen namens Jenny hatte getrommelt. Der Bassist hieß Robin, hatte ein Gesicht blasser als der Mond über der Burgturmspitze und trug selbst im Auto einen schwarzen, breitkrempigen Hut. Naja.
Eduard wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Die Tageshitze hatte kaum nachgelassen. Erst allmählich machte sich ein kühler Wind von Westen wohltuend bemerkbar. Natürlich hatte nicht einer von Jos Bekannten daran gedacht, dass sich um diese Zeit kein Bus mehr die Serpentinen der Breselbergstraße hinaufquälte, um vor der Knittelsteiner Zugbrücke auf Fahrgäste zu warten. Mit was für einer Selbstverständlichkeit die Jugend von heute seine Fahrdienste in Anspruch nahm. Und im Auto sitzen blieb, während er das Tor aufwuchtete!
Baron Eduard unterdrückte sein übliches Ächzen, als er seine Leibesfülle hinter das Lenkrad platzierte. Elvira sagte immer, er sei wie ein Baum, der Jahresringe ansetze. Nicht sehr schmeichelhaft, fand er.
Genauso wenig wie das besorgte „Geht's denn?“ dieses langhaarigen Schnösels neben ihm. Baron Eduard brummte irgendwas, das wie Anschnallen klang, was der Schnösel auch augenblicklich befolgte. Immerhin.
Sie rumpelten über die Zugbrücke. Mit schlafwandlerischer Sicherheit kurvte Baron Eduard um die Schlaglöcher der Breselbergstraße. Unterwegs vernahm er verwundert, dass die vier Bengel ausgiebig Emmas Bewirtung würdigten. Auch wenn sie die Schnittchen und Frikadellen als cooles Catering bezeichneten, und die leicht angekokelten Würstchen mit dieser traurigen Nachricht entschuldigten. Die Knittelsteiner Köchin hatte nämlich während des Abends erfahren, dass ihre Mittelmeerkreuzfahrt ins Wasser gefallen war. Und zwar wörtlich. Das Schiff, mit dem sie zu Wochenbeginn von Ancona aus starten wollte, war gesunken. Was waren dagegen schon ein paar verkohlte Würstchen?
Die Breselbergstraße mündete in die Ulmer Allee in Höhe der Schrebergärten. Im Vereinshaus der Rosenzüchter brannte noch Licht, und beim Kaufhaus Rausch war es Eduard, als winkten ihm die Schaufensterpuppen zu, so lebensecht hatte sie Fridolin Rausch dekoriert. Oder so übermüdet war Eduards Fantasie.
Kurz hinter dem Ulmer Tor stiegen Strothkötter und der langhaarige Ulli aus. Nicht ohne die nächste Geburtstagsparty anzukündigen.
„Donnerstag“, sagte Ulli. „Am achten.“
Baron Eduard nahm an, dass der 8. Juli gemeint war. Hauptsache nicht wieder in der Burg.
„Nee, bei mir“, beruhigte ihn der haarige Gitarrenspieler.
Der Volvo folgte dem Breselbergring um die halbe Innenstadt und bog am Augsburger Tor in die Breselner Landstraße ein. An der Schulstraße bat Freddie den Baron anzuhalten. Hier könne er Jan und ihn rauslassen und am günstigsten wenden. Außerdem bedankte sich Freddie so formvollendet für den Chauffeurdienst, dass Baron Eduard nachher Stein und Bein schwor, es bestehe doch noch Hoffnung bei der Jugend von heute.
„Mensch Freddie“, lästerte Jan, als sich die Volvorücklichter Richtung Augsburger Tor entfernten, „das klang ja wie 'ne Empfehlung als Schwiegersohn.“
Jan war gerade schnell genug, um Freddies Boxhieben zu entkommen. Er rannte lachend die Breselberger Landstraße stadtauswärts. Die Nummer 153 war nicht weit.
„Blödmann!“, und Schlimmeres knurrte Freddie, als er in die Schulstraße einbog. Von hier konnte er bereits die Eingangsstufen des Hauses sehen, in dem Familie Haustenbeck im dritten Stock zur Miete wohnte. Und den Schatten, der sich aus dem Türrahmen löste!
Freddie blieb augenblicklich stehen. Das Mondlicht reichte, um eine gebückte Gestalt zu erkennen, die offensichtlich Mühe hatte, die Stufen hinunter zu klettern. Als sie ohne Unfall die Gehwegplatten erreichte, meinte Freddie ein Kichern zu hören. Gleichzeitig schlang die Gestalt einen vermutlich hellbraunen Kamelhaarmantel um die klapprigen Glieder. Und das tennisballgroße Ding an ihrem Hinterkopf war so ein Haarknoten, den alte Leute Dutt nennen.
Das Gespenst hörte auf den Namen Elfriede Sievers. Eindeutig.
Freddie entspannte sich und schlenderte der tüdeligen Schachtel entgegen. Anscheinend hatte sie sich auf den Stufen eine Verschnaufpause gegönnt. Alte Leute können oft nicht schlafen und geistern durch die Nacht. Besonders bei Vollmond.
„Guten Abend, Oma Sievers“, sagte Freddie.
„Hachja“, kicherte Elfriede Sievers und wackelte an ihm vorbei.
Musste er Mitleid mit ihr haben? Freddie schüttelte den Kopf und trabte zum Hauseingang. Beinahe hätte er das kleine Ding zertreten, das dort im Schatten einer Stufe lag. Freddie hob es auf. Es hatte in etwa die Größe und die Form eines MP3-Players. Allerdings ohne Display. Auch eine Kopfhörerbuchse konnte Freddie nirgends entdecken. Dafür ein paar Knöpfe. Freddie drückte auf den größten.
Er konnte später nicht mehr sagen, ob er das feine Klicken tatsächlich gehört, oder sich nur eingebildet hatte. Gleichzeitig sah er, dass Oma Sievers unter einer Laterne stehen geblieben war. Mit beiden Händen kramte sie in ihren Manteltaschen und blickte sich unruhig um. Freddie war mit wenigen Schritten bei ihr.
„Suchen Sie das hier?“ Er hielt ihr das längliche Ding hin.
Hastig griff Elfriede zu. Etwas zu hastig, fand Freddie.
„Ja, ja“, murmelte die Alte. „Da ist er ja, mein … ähm …“
Freddie hatte den Eindruck, als wäre Elfriede in Gedanken ganz weit weg. „MP3-Player“, half er der mondsüchtigen Oma.
„Ja, ja“, kicherte es wieder unter dem Dutt. Der MP3-Player, oder was es war, verschwand in einer Tasche des Kamelhaarmantels, ohne den man sich in ganz Bresel die Oma gar nicht vorstellen konnte.
„Hachja.“ Drehte sich um und wackelte um die Straßenecke.
Freddie blieb einen Moment still stehen. Er spürte noch die Kühle des Metalls an den Fingern. So war er sich sicher, dass er keinem Spuk begegnet war. Seit ihr Oskar vor zwei Jahren verstarb, wurde Elfriede Sievers immer wunderlicher. Kein Wunder, eigentlich.
Jetzt aber zügig. Freddie hatte versprechen müssen, um Mitternacht im Bett zu liegen. Mittlerweile war es fast halb eins.
Die Haustür war wie üblich unverschlossen. Freddie betrat das Treppenhaus. Direkt gegenüber befand sich die Wohnung der Vermieterin. Frau Traudl Regenbrecht. Vor ein paar Tagen erst hatte sie eine neue Tür einbauen lassen. Dick wie für einen Banktresor und potthässlich, fand Freddie. Aber einbruchsicher, wie Frau Regenbrecht jedem im Haus mit erhobenem Zeigefinger erzählte, auf dass sich auch wirklich jeder angesprochen fühlte.
Und mit einem Löwenkopf als Türgriff. Das würde SIE wahlweise abschrecken oder besänftigen, je nach dem, ob Traudl Regenbrecht gerade ihre mutigen oder ängstlichen fünf Minuten hatte. Im Haus war es gut bekannt, dass sich Frau Regenbrecht vor IHNEN fürchtete. Wer auch immer das sein mochte. Fünfundachtzig war sie geworden, wenn man ihr glauben konnte. Letzte Woche. Wackelig auf den Beinen und – keine Frage – auch im Hirn.
Freddie blieb stehen. Was für ein geschmackloser Griff. Freddie strich mit dem Zeigefinger über das Löwenmaul. Vorsichtig umfasste er ihn mit der Hand. Er ließ sich spielend leicht drehen. Die Tür öffnete sich fast von selbst.
Kaum war der zwölfte Glockenschlag von Sankt Urban verklungen, hatte Traudl Regenbrecht dieses feine Klicken gehört. Ächzend hatte sie sich um den Wohnzimmertisch geschoben. Die neue Tür war abgeschlossen. Ganz sicher. Doppelt! So klar war sie schon noch im Kopf. Da konnte zweifeln, wer wollte.
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