Aber da! Waren das nicht Schritte? Draußen im Treppenhaus! Nein, keine Schritte, wie Menschen sie machten. Mehr ein Schlurfen, ein Ziehen. Traudl schlug das Herz bis zum Hals. Langsam bewegte sie sich rückwärts. Ins Schlafzimmer.
Es war also so weit!
Traudl schloss die Schlafzimmertür und drehte auch hier den Schlüssel zweimal herum. Dann kroch sie, vollständig bekleidet wie sie war, ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Drunter war es heiß und stickig. In diesen Sommernächten kühlte es erst in den Morgenstunden ab. Traudl lüftete die Decke, bis sie durch den Schlitz die Zimmertür sah. Und den Lichtstreifen in Fußbodenhöhe!
Jemand befand sich im Wohnzimmer. Deutlich hörte Traudl einen Stuhl rücken. Und – Traudl kroch das Grauen den Rücken hinauf – SIE sangen! Leise, aber in der Stille der Nacht klar und deutlich zu vernehmen. Mit zittriger Gespensterstimme.
Vor der Kaserne, vor dem großen Tor, stand eine Laterne …
Das Lied, das die Soldaten immer gesungen hatten. Damals. 1943. Als ihr Wilhelm mit ihr in dieses Haus zog …
Traudl biss in die Bettdecke, um nicht zu schreien. Gleich! Gleich kamen SIE auch zu ihr. Da half auch keine Bettdecke.
Aber SIE kamen nicht. SIE gingen wieder. Löschten das Licht. Zogen die Tür zu. Und wieder dieses Klicken, wenn Traudl sich das nicht einbildete. Traudl war nass geschwitzt. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Was, wenn sie aufstand und SIE kamen zurück! Traudl lauschte dem Ticken der Wanduhr.
Zehn Minuten.
War da schon wieder ein Klicken gewesen?
Zwanzig Minuten.
Nein. Alles still.
Allmählich entspannten sich ihre Glieder. Sie würde das Bett neu beziehen müssen, es war klatschnass. Vorsichtig hob sie die Bettdecke. Ein Blick zur Wanduhr – kurz vor halb eins.
0 Uhr 28.
Freddie zog die Tür etwas weiter auf. Wie unvorsichtig von Frau Regenbrecht. Jetzt hatte sie schon eine neue Tür, und dann war sie nicht mal abgeschlossen. Freddie warf einen Blick in den Flur dahinter. Bis ins Wohnzimmer konnte er sehen. Fast hätte er geschrien.
Regungslos saß sie da. Ohne Licht. Ein dunkler Schatten gegen das fahle Mondlicht. Jeden Augenblick erwartete Freddie das wohlbekannte Zetern. Aber sie rührte sich nicht. Saß einfach nur da und starrte ihn an. Freddie nahm seinen ganzen Mut zusammen.
„Frau Regenbrecht? Ihre Tür war …“
Keine Reaktion.
Etwas lauter: „Frau Regenbrecht! Ihre Tür …“
Der Schatten bewegte sich keinen Millimeter. Wie Eis durchfuhr Freddie der Gedanke: Vielleicht ist sie ja … um Himmels willen! Freddie tastete nach einem Lichtschalter. Er fand keinen. Mit drei Schritten war der Flur durchquert. Ah, hier. Das Licht blendete ihn für Sekunden. Dann verließ Freddies Kehle eine Art Gurgeln. Hinter dem Wohnzimmertisch saß nicht Frau Regenbrecht. Da saß – eine Pappfigur! Eine Pappfigur mit einem Foto als Gesicht. Und quer über der Brust ein Name.
Löwenstein
In diesem Augenblick bekam Freddie einen Schlag auf den Hinterkopf. Nicht sehr stark, aber für eine Beule würde es reichen. Freddie fuhr herum. Frau Regenbrecht stand da, leibhaftig, mit einem Wanderstock in der Hand, und holte erneut aus. Freddie duckte sich, der Schlag sauste über seinen Kopf hinweg. Mit wirren verschwitzten Haaren und weit aufgerissenen Augen starrte die Alte an ihm vorbei.
„Verschwindet!“, schrie sie. Meinte sie tatsächlich die Pappfigur? „Verschwindet!“
Freddie reagierte blitzschnell, als sie zusammensackte. Er konnte die schwere bewusstlose Frau nicht halten, aber immerhin verhindern, dass ihr Kopf auf den Boden schlug. Jetzt erst bekam Freddie Panik. Frau Regenbrechts Augen waren so verdreht. Und Freddie wurde das Gefühl nicht los, dass die Pappfigur alles scharf beobachtete.
Freddie angelte ein Kissen von einem Stuhl und legte Frau Regenbrechts Kopf darauf. Und rannte. Nahm drei Stufen auf einmal bis in den dritten Stock und schellte Sturm.
Kommissar van der Velde gähnte und rieb sich mit dem rechten Handrücken die Augen. Die linke Hand umfasste das Lenkrad. Als er die schlafverklebten Augen wieder öffnete, stieg er mit aller Kraft auf die Bremse. Die Reifen des Polizeiautos quietschten, ein Pfleger sprang zur Seite. Wenige Zentimeter hinter dem Krankenwagen kam van der Velde zum Stehen.
Hör auf zu meckern , dachte der Kommissar und würdigte den Pfleger keines weiteren Blickes. Wehe, wenn es hier nichts Wichtiges gab, für das man ihn aus dem Bett geholt hatte! Mitten in der Nacht. Van der Velde dachte an Hinrich, seinen Assistenten. Hinrich schnarchte vermutlich glücklich in seine Kissen. Van der Velde nahm sich vor, dem Rettungsdienst eine andere Telefonnummer zuzustecken. Die von einem gewissen schnarchenden Assistenten …
Als er die Wohnung von Frau Regenbrecht betrat, schleppten gerade zwei Sanitäter die Frau auf einer Trage nach draußen. Der begleitende Arzt teilte ihm mit, dass Frau Regenbrecht die restliche Nacht lieber im Vincenzkrankenhaus verbringen solle. Sie stehe offensichtlich unter Schock und brauche fachkundige Betreuung.
Franz van der Velde nickte müde, unterdrückte ein Gähnen und wandte sich an Gerlinde Haustenbeck. Freddies Mutter hatte sich in einen Sessel fallen lassen und betrachtete fassungslos die Pappfigur, die immer noch hinter dem Wohnzimmertisch saß. Freddie stand mit dunkel geränderten Augen neben ihr.
„Was …“, setzte Gerlinde Haustenbeck an. „Was soll das?“
Van der Velde zuckte mit den Schultern. „Wenn wir das bloß wüssten“, brummte er schließlich und ergänzte: „Bereits der dritte Fall dieser Sorte.“
„Der dritte?“
Kommissar van der Velde nickte wieder und umrundete langsam den Tisch. Er beugte sich zu der Pappe hinab, um besser lesen zu können.
„Löwenstein“, murmelte er. „Im März war es Bublanski, im November … ist mir grad entfallen. Und nun Löwenstein.“
„Wer … ist Löwenstein?“ Frau Haustenbeck sah ihn entsetzt an.
Kommissar van der Velde gab keine Antwort. Stattdessen gähnte er wieder und legte seine rechte Hand schwer auf Freddies Schulter. „Nun zu dir.“
Freddie schluckte. Auf einmal kam er sich wieder richtig klein vor. Die nächste Frage brauchte der Kommissar gar nicht zu stellen.
„Die Tür war offen“, flüsterte Freddie und wünschte, der Kommissar nähme seine Hand wieder fort.
„Offen?“
„N-nein“, stotterte Freddie, „ich hab halt so probiert, und dann …“
„Und dann?“
„War sie offen.“
„Und du bist rein.“
Freddie nickte. Als er merkte, dass van der Velde ihn weiterhin erwartungsvoll anschaute, ergänzte er. „Weil sie doch da so saß. So wie … tot.“
„Freddie …“, murmelte Gerlinde Haustenbeck.
„Und da hab ich Licht gemacht und …“
„Da war sie das gar nicht.“
Freddie schüttelte den Kopf. „Da hat sie mir den Stock auf den Kopf gehauen.“
„Ach, nee“, grinste van der Velde. „Aber sonst hast du hier nichts angefasst?“
Freddie verneinte wieder, und seine Mutter beeilte sich zu sagen: „Nein, nichts, Herr Kommissar.“
„Gut“, sagte van der Velde und kämpfte mit dem nächsten Gähnen. Und verlor. „Das werden wir ja anhand der Fingerabdrücke feststellen. Danke soweit.“
Er machte eine Handbewegung zur Tür. Frau Haustenbeck und Freddie folgten ihm aus der Wohnung. Draußen schloss van der Velde sorgfältig ab und klebte ein amtliches Siegel auf die Ritze zwischen Rahmen und Tür.
„Morgen früh kommt die Spurensicherung“, erklärte er, und dass er eventuell noch einige Fragen an Freddie habe. „Aber jetzt“, van der Velde schüttelte sich, „Gute Nacht.“
„Gute Nacht“, wünschte auch Gerlinde Haustenbeck und schob Freddie die Treppe hinauf.
Читать дальше